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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis
Autoren: Anne LaBastille
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Schwanz über das Wasser aus und marmoriert die Spiegelbilder der ebenholzschwarzen Hügel, des blitzblauen Himmels und der rosigen Wolken. Augenblicke später folgt das Weibchen mit drei Jungen im Kielwasser. Ich sitze verzaubert und sehe, wie die schwankenden Farben langsam wieder zu Spiegelperfektion erstarren. Bachaufwärts beginnt ein mampfendes Geräusch. Ich schlüpfe in mein Aluminiumkanu (es trägt einen Tarnanstrich, der wie Birkenrinde aussieht) und paddle leise auf das Geräusch zu. Fünf Biber, halb im, halb über dem Wasser, halten Mahlzeit. Sie haben eine zwanzig Zentimeter dicke Gelbbirke gefällt, deren Krone jetzt im Wasser liegt. Mit seinen starken gelben Zähnen nagt jedes Tier kleine fortlaufende Pfade ins Holz des Stammes.
    Das Männchen sieht mich. Sofort taucht es ab, kommt fünf Meter weiter wieder hoch und peitscht mit dem Schwanz aufs Wasser. Einige Tropfen spritzen bis in mein Gesicht. Vorsichtig beginnt es das Kanu zu umkreisen, zischend und prustend. Das Weibchen schließt sich der Erkundung an. Weiter draußen ziehen die Jungen Kreise. Zwanzig Minuten dauert das gegenseitige Beäugen. Ich bin ein schwarzweißer Planet, und sie sind fünf mißtrauische Trabanten, in unablässiger Umlaufbahn. Manchmal könnte ich sie mit dem Paddel berühren. Schließlich breche ich das Patt und ziehe mich zurück, fort von ihrem Futterbaum. Die Biber beruhigen sich und kehren zu ihrer Mahlzeit zurück. In ein paar Tagen, wenn sie die Rinde und das zarte Astwerk verzehrt haben werden, komme ich mit dem Boot zurück und schleppe den Stamm als Brennholz nach Hause. Immerhin ist es mein Baum.
    Die Herbsttage in den Adirondacks sind um die Mittagszeit meist noch mild genug, daß man ein letztes Mal vor dem Winter sonnenbaden kann. Auf dem Sonnendeck sitzend, bewundere ich meine aus Abfallbrettern gebauten Blumenkästen. Die herbstharten roten und weißen Petunien sind vom Frost noch nicht verschrumpelt. Plötzlich ein Schwirren: Ein Kolibri taucht seinen Schnabel in eine Blüte. Vielleicht ist dies sein letzter Tag, an dem er in den Adirondacks Nektar aus meinen Blumen saugen kann. Bis zum 20. September wird er fort sein. Wie ein winziger Jet wird er nach Süden fliegen, in sein Winterquartier nach Florida, Mittelamerika oder Panama. Und pünktlich, wie nach einem starren Airline-Flugplan, wird er bis zum 15. Mai zurück sein. Dieser titanische Winzling hat einen unglaublich empfindlichen inneren Steuermechanismus, der wahrscheinlich auf wechselnde Sonnenlichtstärken, Erdmagnetfelder und/oder Fixsternpositionen anspricht. Das und eine Vitalität, die ausreicht, sein Zehn-Zentimeter-Körperchen zweimal im Jahr zu festgelegten Zeiten anderthalb bis dreitausend Kilometer über Gebirge und Meer hinweg an einen bestimmten Ort zu treiben.
    Die einzigen fliegenden Kreaturen, deren Kraft und Mobilität mich noch stärker beeindrucken, sind die Monarch-Wanderfalter. Wenn ich daliege und die schwachen Sonnenstrahlen aufsauge, sehe ich sie an den düsteren Fichten vorbeischweben, orangeleuchtend wie Herbstblätter, aber unendlich fragiler. Aufwinde werfen sie bis in die Baumkronen, Abwinde wieder hinab bis in die Nähe der Petunien. Trotzdem setzen sie unbeirrt ihren Zug nach Süden fort, manchmal an die zweitausend Kilometer weit. Bei all ihrer biologischen Unterschiedlichkeit und ihrer scheinbaren Verwundbarkeit können sich diese Insekten an Kraft und Wanderausdauer mit den Kolibris durchaus messen.
    In klaren frostigen Morgenstunden weckt mich der Stentorschrei der Kanadagänse, die niedrig über meine Hütte hinwegfliegen. Es ist ein etwas heiserer Schrei, als seien sie, gerade aus dem Schlaf erwacht, von einem kalten nebligen See aufgestiegen. Den ganzen Tag, Keilformation auf Keilformation, ziehen sie nach Süden, leicht vom Nordwind nachgeschoben. Jedesmal wenn ein solcher Chor vorüberkommt, laufe ich zur Lände, um sie zu zählen. Auch nachts fliegen die Vögel, dann aber unglaublich hoch. Von der Lände aus höre ich ihnen wieder zu, in eine Daunenjacke gehüllt, und blicke in den Himmel, zwei-, dreitausend Meter hoch. Geisterhaft, wie ferne Waldhörner, klingt ihr Ruf. Mein Geist schwingt sich auf zu ihnen. Ich sehe die mächtigen Adirondacks zu dunklen Klumpen schrumpfen, durchzogen von quecksilbrigen Flüssen und Seen und im Mond glitzernden Sümpfen.
    Wie ich mir wünsche, mit den Gänsen wegzufliegen von trüben Novembertagen, von der Seevereisung, dem grausamen Winter. Weg von Einsamkeit, Isolation und
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