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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis
Autoren: Anne LaBastille
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schlanker weißhaariger Mann öffnete. Ich stellte mich vor und bat um Hilfe. Er lud mich ein, hereinzukommen, und ging seine Frau und seine beiden halbwüchsigen Söhne holen, die mit der Morgenzeitung im Wohnzimmer saßen. Kakaotassen in der Hand, hörten sie sich meine Geschichte an. Dann sagte der eine: »Ich gehe jetzt in den Park und fange an, den Hund zu suchen.«
    Der andere Junge: »Ich werd’ in der Straße, wo Sie ihn haben hinlaufen sehen, überall klingeln und fragen.«
    Die Frau: »Ich telefoniere mal in der Nachbarschaft herum und frage, ob jemand von einem solchen Hund weiß. Er muß nach dieser Beißerei doch einen ziemlich auffälligen Anblick bieten. Sie legen sich jetzt erst mal ins Bett. Nachher bringe ich Ihnen etwas heiße Suppe hinüber.«
    Der Mann: »Samstags mache ich immer den Lebensmitteleinkauf. Was kann ich Ihnen mitbringen?«

    Ich atmete auf. Es gab also doch freundliche und hilfsbereite Menschen in der Stadt. Ich hinkte zu Sallys und Lorens Haus zurück und legte mich auf die Couch. Am Nachmittag war der Hund gefunden. Sein Besitzer, ein seriöser Geschäftsmann, eilte an mein Bett. Er versicherte mir, sein Haustier habe die vorgeschriebenen Tollwutspritzen bekommen und sei kerngesund. Der Hund war in der Nacht zuvor ausgerissen und hatte sich im Park nur übermütig herumgetollt. Die Polizei kam und kassierte vom Hundebesitzer fünf Dollar Bußgeld wegen Übertretung der Vorschrift über das Anleinen. Er erklärte sich ohne weiteres einverstanden, den Retriever zehn Tage in Quarantäne zu geben, um sicher zu sein, daß keine Krankheit ausbrach. Er bot an, meine Arztkosten zu übernehmen, mich zur Arbeit zu fahren, solange ich lahmte, und Pitzi auszuführen. Er hätte nicht entgegenkommender sein können. Gegen Abend sah die Welt schon viel freundlicher aus. Die schmerzhaften Tollwutspritzen waren mir erspart geblieben, und ich hatte in dieser Krise in der Großstadt gute Menschen gefunden, die mir beistanden.
    Als ich wieder gehen konnte, begann ich, an den Wochenenden mit Pitzi nach Maryland zu fahren. Bekannte, die ich neu kennengelernt hatte, besaßen dort eine Farm, wo ich den Hund frei laufen lassen konnte, ungefährdet lange Spaziergänge machen und im netten Freundeskreis zu Abend essen konnte. Die Farm lag nur fünfunddreißig Kilometer von der Washingtoner Innenstadt entfernt; dennoch dauerte die Fahrt meist mehr als eine Stunde. Hin und her ging es über schätzungsweise vierzig rote Ampeln. Konnte ich in den Adirondacks hundertzwanzig Kilometer zurücklegen, ohne ein einziges Mal auf eine Ampel zu treffen, hieß es hier: Halt — Anfahren, Halt — Anfahren. Mein Frustrationspegel stieg. Die Abgaswolken, die merkwürdigen Eigenarten der Großstadt-Autofahrer, die schäbigen, trostlosen Vorstadt-Szenerien sägten an meinen Nerven. Es fiel mir auf, daß ich selber am Steuer aggressiv wurde. Eine Wolfswelt, in der man sich durchzusetzen hatte. Manchmal war mir zumute, als müßte ich vor Verzweiflung schreien. Wäre ich dauernd in Washington geblieben, hätte ich mit Sicherheit irgendwann einen schweren Unfall gebaut oder das Autofahren aufgegeben. Unter diesen Umständen schien mir eine Story, die ich gehört hatte, durchaus glaubhaft. Da war ein erboster Fahrer im Stau ausgestiegen, zu seinem Vordermann gegangen und hatte ihn in den Kopf geschossen.
    Zum Glück brauchte ich nicht länger als acht Monate in Washington zu bleiben. Eines Tages im Juni legte ich meinem Auftraggeber einen fertigen Bericht auf den Tisch, erhielt einen Empfehlungsbrief, sagte meinen Kollegen adieu und belud den Wagen. Dann fuhr ich mit Pitzi nach Norden, wo sanft das Nordlicht über den Wäldern spielen würde. Nach Norden, zu wolkenspaltenden Gipfeln, wie Bockbier braunen Flüssen, sonnigen Biberwiesen, dunklen Fichtenwäldern, fischreichen Bächen und duftenden Balsamtannen.
    Nie war mir die Hütte so schön erschienen. Ich spürte, wie meine Kraft zurückkehrte, wie meine Reaktionen auf die Umwelt wieder schneller wurden, die Reflexe schärfer, die Muskeln fester, der Körper schlanker. Weg mit den Stadtschuhen! Wohlig streckten sich meine Zehen wieder in Mokassins und Holzfällerstiefeln. Hühneraugen, die in Washington entstanden waren, verschwanden langsam. Meine Aggressionen am Steuer legten sich. Ich schlief gut. Wie befriedigend war es doch, den Sommermorgen wieder am Schreibtisch oder auf dem Sonnendeck zu verbringen, schreibend, tippend, Korrespondenz beantwortend und zwischendurch im
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