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Alle Menschen werden Schwestern

Alle Menschen werden Schwestern

Titel: Alle Menschen werden Schwestern
Autoren: Luise F Pusch
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Oldspeak = Malespeak

4.1 >Doublethink< und >Newspeak<

    Einer der Kernsätze in 1984, eine sozusagen leitmotivische Klage des Helden Winston, lautet: »Alles löste sich in Nebel auf .« Winston ist einerseits der wahnsinnigmachenden Propaganda Ozeaniens permanent ausgesetzt, hat sich aber andererseits noch Reste seines gesunden Menschenverstandes bewahrt, und so kann er nicht anders als an sich selbst, seinem Verstand und an allem irre werden . Er beherrscht die Kunst des Doublethink noch nicht so perfekt, daß er wirklich wissen und glauben kann, daß 2x2=5 ist oder auch =4, je nachdem, wie die Partei es befiehlt.
    Zwei Arten des Denkens werden in 1984 einander gegenübergestellt: Erstens das »normale Denken« nach den Gesetzen gängiger Logik (2 + 2 = 4) oder »der gesunde Menschenverstand«. Zweitens das Denken von Wahnsinnigen, Doublethink. Doublethink ist nicht etwa das systematische Fürwahrhalten des evident Falschen — das wäre zu simpel. Es ist das gleichzeitige Fürwahrhalten einer Behauptung und ihres Gegenteils. Für einen Doublethinker sind beide Aussagen, 2 + 2 = 4 und 2 + 2 = 5, wahr, wenn die Partei es will.
    Der Mensch ist allerdings von Natur nicht so angelegt, daß er Doublethink ohne weiteres beherrscht; er muß es erlernen. Damit alle es erlernen, besitzt Ozeanien eine gewaltige Propagandamaschinerie, die sämtliche Medien (und deshalb auch »die Wirklichkeit«) vom »Wahrheitsministerium« aus kontrolliert. Eine Abteilung des Wahrheitsministeriums beschäftigt sich mit der Entwicklung einer geeigneten Sprache zur Durchsetzung des Doublethink. Diese Sprache heißt Newspeak. Die Sprache hingegen, die es abzuschaffen gilt, ist die Sprache des gesunden Menschenverstandes, die Sprache, in der der Roman 1984 geschrieben ist. Sie heißt Oldspeak.
    Ich habe oben [3.3] an zahlreichen Beispielen vorgeführt, daß die Sprache von 1984, die Sprache Orwells, das »gute alte Oldspeak «, sich in bezug auf den Unpersonen-Status von Frauen von der Orwellschen Schreckensvision Newspeak nicht im geringsten unterscheidet. Das Symbol der Partei ist der Große Bruder, die Organisation der revolutionären Untergrundbewegung nennt sich Die Brüderschaft. Großer Bruder versus Brüderschaft mag ja für Männer einen Unterschied machen — für Frauen ist es dasselbe: Wir kommen nicht vor. Wir wurden vaporisiert.

4.2 Kleine Grammatik der Männersprache Deutsch (= Oldspeak = Newspeak = Malespeak):
Mittel zur Vaporisierung der Frau

    In Ozeanien ist die Vaporisierung von Menschen ein relativ aufwendiges Verfahren, mit dem zunächst die Gedankenpolizei (physische Ausmerzung) und sodann ganze Hauptabteilungen des »Wahrheitsministeriums« u. U. monatelang beschäftigt sind, bis sämtliche Spuren der betreffenden Person aus den Archiven getilgt sind, jeder Beweis ihrer Existenz vernichtet ist. Die Vaporisierung erfolgt in der Regel individuell, von Fall zu Fall. Das Problem der Vaporisierung ganzer Bevölkerungsgruppen wird gar nicht erst erwähnt, vermutlich weil Orwell es doch für zu kompliziert hält. Er ist eben kein Linguist, und so haben seine Fachleute für Newspeak noch nicht begriffen, daß schon die Grammatik des Oldspeak die effektivste und raffinierteste Form der Vaporisierung in sich beschließt und garantiert: Das Wissen um Personen (ob Einzelindividuen oder die Hälfte der Bevölkerung) kann am besten mittels der Sprache und hier wiederum am besten mittels einiger grammatischer Tricks ausgelöscht werden (wie Orwell uns ja, wenn auch unbewußt, ständig vorexerziert). Auf die aufwendige Vaporisierung der Personen selbst kann bei diesem Verfahren getrost verzichtet werden. Sie mögen ruhig weiterexistieren (vielleicht werden sie ja auch noch mal gebraucht), solange gesichert ist, daß sie im allgemeinen Bewußtsein (ihr eigenes eingeschlossen) so gut wie nicht vorhanden sind. Irgendwann werden sie sowieso sterben, und dann ist es so, als wären sie nie gewesen.
    [Hierzu fällt mir eine Analogie aus der Textverarbeitung mittels Computer ein: Eine Datei wird gelöscht, indem man ihren Namen im Inhaltsverzeichnis tilgt. Das genügt. Die physische Löschung, etwa wie bei Ton- und Videobändern, oder gar die Vernichtung des Informationsträgers selbst, wie bei Film- oder Aktenmaterial, ist unnötig, denn die Datei ist auch so nicht mehr »greifbar«. Der Raum, den sie physisch einnimmt, steht für weitere Verwendung zur Verfügung. Und zur Not kann die solcherart »gelöschte« Datei auch wieder »ins Leben
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