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Alle Menschen werden Schwestern

Alle Menschen werden Schwestern

Titel: Alle Menschen werden Schwestern
Autoren: Luise F Pusch
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»Ungefähr ein Viertel seines Gehaltes mußte man für freiwillige Beiträge zeichnen« (S. 54).
    Diese Technik der schamlosen Verdrehung der Fakten mittels der Sprache ist für Propagandasprache typisch; Orwells Muster waren hier vermutlich die Sprachkünste der Nazis, die aus Vernichtungslagern »Arbeitslager«, aus Vergasung »Sonderbehandlung« und aus der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung die »Endlösung der Judenfrage« machten. Ähnliches vollbringen auch unsere heutigen Politiker mit »Entsorgungspark« für Atommülldeponie oder »pacification« für Bombardierung. Auch die sog. Arbeitgeber sind recht kreativ, wenn sie eine Entlassung als »Chance, sich auf dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren« verkaufen. 17 Diese Parallelen zwischen Newspeak und unseren Sprachen sind einer sprachkritischen Öffentlichkeit inzwischen einigermaßen bewußt. 18 Weniger bekannt ist die Tatsache, daß unsere diversen Männersprachen, sei es nun Französisch, Türkisch, Deutsch, Englisch, Russisch oder sonst eine Sprache des Patriarchats, durchsetzt sind mit lexikalisierten Verdrehungen zum Nachteil der Frauen und zur geistigen Vernebelung beider Geschlechter. Genannt wurden eben schon die sog. »Bräuche« statt Folterung von Frauen, Mord an Frauen oder das »Zeitalter des Humanismus« statt Zeitalter der Hexenverbrennung. Ein weiteres und besonders eklatantes Beispiel ist der sog. »männliche Same«, der gar kein richtiger Same ist, sondern nur so heißt. Biologisch korrekt wäre etwa die Bezeichnung Pollen. Das Wort Same geht zurück auf die androzentrische Wunschvorstellung, der Mann sei der »Erzeuger« der Kinder, die Frau nur sein dienstbares Gefäß, ähnlich dem » Mutterboden « , in den derjenige Same gelegt wird, der diesen Namen verdient. Der Mythos von der »Empfänglichkeit« und »natürlichen Passivität« der Frau gegenüber der Schöpferkraft des Mannes speist sich vermutlich direkt aus dieser hybriden Vorstellung, die durch Vokabeln und Wendungen wie Same, sie empfing ein Kind von ihm, er machte ihr ein Kind und ähnliche Sprachlügen konserviert wird bis auf den heutigen Tag. 19
    Die Analyse und Bewußtmachung der frauenfeindlichen semantischen Verdrehungen in unserem Wortschatz hat gerade erst begonnen. Diese Forschung muß zur Zeit außeruniversitär betrieben werden, weil wir Frauen, auch wir Linguistinnen, nicht dürfen, was wir können — jedenfalls nicht an den deutschen Männer-Universitäten.

    1984

Die Hermaphrodite
Oder
Femininum und Realität

    ...alles Frauenzimmer [...] entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.
    Immanuel Kant 20

    Vorbemerkung : Diesen Aufsatz, der ursprünglich den Titel »Weibliche Personenbezeichnungen als Mittel weiblicher Realitätsdefinition« trug, habe ich im Frühjahr 1984 für Gastvorträge an den Universitäten Berlin (FU), University of California at Berkeley, Genf, Montreal (McGill) und Vechta geschrieben; wegen dieser Anlässe ist er stellenweise im Stil ein bißchen akadämlich geraten. 1985 erschien eine vorläufige Fassung. 21 Für den Abdruck in diesem Band habe ich den Text im Winter 1988/89 gründlich überarbeitet.
    Was die sprachpolitische Position betrifft, die ich hier vertrete, so gehe ich in dem 1986, also zwei Jahre später, verfaßten Artikel »Alle Menschen werden Schwestern« [in diesem Band] ein gutes Stück weiter. Die rein linguistische Analyse des Phänomens Hermaphrodite bleibt aber weiterhin aktuell; sie stellt nur den Anfang dar und sollte vertieft werden.

1 Die Hermaphrodite — das unbekannte Wesen

    Warum heißt es eigentlich der Zwitter und nicht die oder das Zwitter ? Zwitter sollen doch gerade eine Mischung aus beiden Geschlechtern sein; warum wird dann bei ihrer Benennung nur das Männliche berücksichtigt? Die Antwort ist: Männliches darf nicht unter einen weiblichen Oberbegriff fallen. So lautet das oberste Gesetz patriarchaler Sprachen. Deshalb wird ein Mann, der Hebamme ist, Geburtspfleger genannt; sofort werden die entsprechenden Verordnungen umgeschrieben. Aber eine Frau, die zum Amtmann befördert werden soll, muß jahrelang im Rahmen des Männerapparats Justiz gegen die männliche Verwaltung prozessieren, bis ihr die Bezeichnung Amtfrau gewährt wird. 22 Sogar die männlichen Anteile eines Zwitters genießen den sprachlichen Schutz der Geschlechtsidentität, der gewöhnlich nur für echte Männer gilt und Frauen verwehrt bleibt.
    Ein Zwitter wird auch Hermaphrodit
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