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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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niemand. Sie war sauber und warm eingepackt in mehrere Schichten zerrissener Kleidung, alles ordentlich zugeknöpft. Haregewoin sah auf der Suche nach einem Hinweis lange die Straße hinauf und hinunter, und bat den Wächter, sich vor das Tor zu stellen, für den Fall, dass jemand zurückkam, um nach dem Kind zu sehen.
    » Semesh man no? Wie heißt du?«, fragte sie das hübsche Kind, das nach Seife und Parfümöl roch.
    Das Mädchen lächelte geheimnisvoll und sagte: »Mimi.«
    Aber mimi war kein Name, mimi war ein Kosewort, mimi hieß so viel wie »Schätzchen«.
    Aber Mimi war der einzige Name, an den sich das kleine Mädchen erinnerte, also wurde sie zu Mimi und ihr richtiger Name ging verloren.
    Mimi zog sich eine Woche lang in sich zurück und gab sich ihrem Kummer hin, sie saß auf dem Boden und fing an zu schreien, sobald sich ihr jemand näherte. Das war ihre Art zu trauern. Danach entwickelte sie eine große Anhänglichkeit an Haregewoin und wurde die Letzte in einer ganzen Reihe kleiner Mädchen, die in Haregewoins Bett schliefen. Es machte ihr Spaß, vormittags mit den anderen Vorschulkindern in Haregewoins Zimmer auf dem Boden zu sitzen und die neue Mutter zu bewundern. Wie alle Kinder auf der Welt, die gestillt worden waren, schob sie ihrer Mutter gern besitzergreifend eine kleine kalte Hand in den Ausschnitt, legte ihre Finger auf die weiche Haut und hielt sich fest.
    Vor kurzem bewirtete Haregewoin in der Sitzecke ihres Schlafzimmers Besuch aus Norwegen; die Männer und Frauen dachten darüber nach, ob sie ihr eine kleine Spende von ihrer Kirchengemeinde zukommen lassen sollten; die Kaffeezeremonie wurde vorbereitet, Henoks Mutter verteilte frisches Gras auf dem Boden. Mimi kam herein, kletterte auf Haregewoins Schoß und schob ohne Vorwarnung ihre kalte, schmutzige Hand tief in Haregewoins Büstenhalter.
     
    Vor einiger Zeit hatte Haregewoin nach einem langen heißen Tag eine heiße Nacht mit vielen Stunden Papierkram vor sich. Inzwischen kannte sie sich mit den Feinheiten der Buchführung, wie sie von überseeischen Wohltätigkeitseinrichtungen verlangt wurde, aus. Es gab zwar den Buchhalter, der ihr half, aber sie ging die täglich anfallenden Belege gern selbst durch; und sie las auch gern noch einmal die netten Briefe, die gelegentlich zusammen mit Spenden eintrafen, Worte der Ermutigung und freundliche Grüße aus Übersee. Das Ess-/Studierzimmer hatte einen Alkoven, den sie als »Büro und Bibliothek« bezeichnete. Auf mehreren Regalen standen geschenkte englische Kinderbücher, und in einem niedrigeren Fach lagen Zeichenpapier und Malkreiden. Sie hatte einen alten hölzernen Schreibtisch mit einer Leselampe darin aufgestellt, von der warmes Licht auf die wartenden Unterlagen fiel. Nachts, wenn sie als Einzige im Haus noch wach war, trat sie von diesem Büro aus mit der Außenwelt in Kontakt, erfuhr von den Sorgen und den Spenden und der Hilfe in der Welt. Manchmal erhielt sie eine kurze Nachricht von einem Kind, das früher bei ihr gelebt hatte und jetzt im Ausland war, zusammen mit ein paar Fotos und einem Brief der Eltern. Für 250 Kinder war ihr Heim eine Durchgangsstation auf dem Weg zu neuen Familien im Ausland gewesen. Für 53 Kinder im Viertel bezahlte sie die Schulgebühren. (Bisher hatte keine äthiopische Familie im Land selbst eines ihrer Kinder adoptiert.)
    Heute Nacht hatte Mimi jedoch Schwierigkeiten einzuschlafen. Haregewoin saß über sie gebeugt an ihrer Seite. Das schläfrige Kind lutschte am Daumen und hatte die andere dicke kleine Hand in Haregewoins Ausschnitt geschoben. Haregewoin legte den Kopf in die Hand, den Ellbogen aufs Knie gestützt, und versuchte, wach zu bleiben. Schließlich hörte die kleine Hand an ihrer Brust auf, sich zu bewegen. Mimi war eingeschlafen. Sanft befreite Haregewoin sich von ihr und stand auf; langsam und leise verließ sie auf Zehenspitzen ihr Schlafzimmer und ging die Treppe hinunter. Auf halbem Weg über den Hof ließ sie Mimis frustriertes Protestgeheul mitten in der Bewegung innehalten - Haregewoins Weggehen hatte die Kleine geweckt.
    Würde sie wieder einschlafen? Haregewoin wartete mit schief gelegtem Kopf.
    Leise ging sie einen weiteren Schritt auf ihr Büro zu.
    Nein, aus dem Weinen wurde ein aus Kummer und Einsamkeit geborener Schrei, gemischt mit Angst. Haregewoin sah den Lichtschimmer der Lampe, der durch das staubige Fenster fiel, vor sich; ein Stapel Papiere harrte ihrer Aufmerksamkeit. Sie drehte sich ergeben um und schlurfte
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