Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
Vom Netzwerk:
zurück in ihr Schlafzimmer. Sie setzte sich neben das Kind, murmelte ihm beruhigende Worte zu und beugte sich über das Bett. Mimi streckte verschlafen eine Hand aus und legte sie auf Haregewoins Oberarm, dann schlief sie in dem beruhigenden Gefühl, die Wärme einer Mutter zu spüren, wieder ein.

56
    Bevor Mikki und Ryan Hollinger im August 2004 Äthiopien mit Mekdes und Yabsira verließen, beschlossen sie, nach dem Großvater zu suchen, dessen Name in den Adoptionsunterlagen angegeben war. Sie hatten schon vor ihrer Abreise aus Snellville darüber gesprochen.
    »Es könnte in einer Katastrophe enden«, hatte Mikki gesagt. »Ich sehe es schon vor mir: Die Kinder weinen, weil sie bei ihrem Großvater bleiben wollen, um uns herum trauernde Verwandte und ein Haufen feindseliger Dorfbewohner, und ich würde am liebsten sterben.«
    »Das ist vielleicht die einzige Gelegenheit«, hatte Ryan gesagt. »Wir werden es uns später kaum noch mal anders überlegen können. Hier geht es immerhin um den Großvater der Kinder.«
    Im strömenden kalten grauen Regen fuhren die vier Hollingers und ich in Selamneh Techanes Taxi aus der Stadt hinaus. Als Erstes machten wir bei Haj Mohammed Jemal Abdulsebur Halt, der im vergangenen Jahr Tante Fasika und Tante Zewdenesh zu Haregewoin geführt hatte (der nette Mann, dem ich einen einzigen Ballon gegeben hatte).
    Haj begrüßte uns überschwänglich und bestand darauf, uns in seinem Haus eine Erfrischung anzubieten, bevor wir unsere Suche fortsetzten. Wir betraten einen Hof, der wie eine mittelalterliche Festung von einem hohen Zaun aus spitzen Holzpflöcken umgeben war. Darin standen mehrere Reihen von Hütten - wie in einem billigen amerikanischen Motel auf dem Land -, die er hatte errichten lassen, um die Scharen von Waisen aufzunehmen, die es im Dorf gab. In einer Pause zwischen zwei Regengüssen ließen wir uns auf wackligen Küchenstühlen nieder, um die herum hohes, dunkelgrünes Unkraut wuchs. Die beiden schüchternen älteren Frauen von Haj servierten Coca-Cola und Fanta in Flaschen. Dann nahm Haj auf dem Beifahrersitz Platz, und wir anderen quetschten uns auf die Rückbank. Binnen kurzem waren die Fenster beschlagen, während das Taxi durch die aufgeweichte, ärmliche Landschaft schlingerte. Mikki war an diesem Morgen mit Halsschmerzen aufgewacht, die im Lauf des Tages immer schlimmer wurden.
    Eine halbe Fahrstunde von Hajs Hof entfernt bogen wir auf eine schmale, abfallende unbefestigte Straße ein, die auf der einen Seite von einer Reihe Hütten aus Lehm und Blech und auf der anderen von einer Reihe zerzauster Bäume gesäumt wurde. An diesem trostlosen Ort machte Selamneh auf Hajs Anweisung hin den Motor aus, sprang aus dem Auto und lief die Straße hinunter. Auch Haj stieg aus und verschwand. Die Hollingers und ich wussten nicht, was wir tun sollten, also blieben wir eingezwängt auf der Rückbank sitzen. Mikki legte den Kopf an die Rücklehne, es ging ihr nicht besonders gut, sie fürchtete, dass sie eine Angina bekam; der Hokey-Pokey-Hamster schwenkte seinen rechten Arm. Mekdes starrte aus dem Fenster. Erneut setzte feiner Nieselregen ein.
    Selamneh kam zurück, bat um Fotos der Kinder, um sie herumzuzeigen und vielleicht jemanden zu finden, der sie gekannt hatte, und spurtete wieder davon. Mekdes betrachtete weiterhin verträumt den grauen Himmel und die nassen Straßen. Ein etwa sechsjähriger Junge, der mit seiner Mutter an unserem Taxi vorbeiging, warf einen Blick zu uns herein und rief: » Selam , Mekdes!«
    » Selam , Birhanu«, rief sie zurück und winkte fröhlich. Der Junge und seine Mutter setzten ihren Weg fort.
    »Was war denn das?«, rief Ryan. »Kann mir bitte mal jemand sagen, was das gerade war? Mekdes, kennst du ihn? Kennst du ihn?« (Mekdes sprach noch kein Englisch.)
    »Warten Sie, warten Sie!« Ryan befreite sich hastig von Yabsira in seinen schmutzverkrusteten Schuhen, der fiebernden Mikki, mir und dem Hokey-Pokey-Hamster. Er packte Mekdes und sprang mit ihr aus dem Auto. »Warten Sie!«, rief er den sich entfernenden Leuten hinterher. (Auch sie sprachen kein Englisch.) »Hallo? Hallo? Kennen Sie das Mädchen?«
    Sie drehten sich um. Sie eilten zurück. Plötzlich kamen überall aus den Blechhütten entlang der Straße Frauen und Kinder und umringten das Taxi. Sie riefen: »Mekdes! Baby!«
    Ohne auf eine Erlaubnis zu warten, nahmen die Frauen Ryan Mekdes aus den Armen und beugten sich vor, um in das Taxi zu blicken und nach »Baby« Ausschau zu halten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher