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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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Yabsira kletterte aus dem offenen Fenster und wurde ebenfalls von der Menge verschluckt.
    Immer mehr Männer, Frauen und Kinder kamen hinzu und reichten die beiden von Arm zu Arm. Eine schöne junge Frau, die am Rand gestanden hatte, trat vor, nahm Yabsira, setzte ihn sich auf den Rücken und band ihn mit ihrem Tuch fest.
    »Wer ist das? Was ist los?«, fragte Mikki mit schwacher Stimme vom Rücksitz. Selamneh kehrte zurück und übernahm das Kommando. Er wurde von aufgeregten, hohen Stimmen mit einer Flut von Worten überschüttet. Eine Frau mit einem schmalen Gesicht und einem Schal um den Kopf hatte besonders viel zu sagen. Selamneh hörte ihr zu, dann übersetzte er für Ryan und Mikki: »Sie war die beste Freundin der Mutter der beiden. Sie hat Fotos von den Kindern für Sie zu Hause, wenn Sie sie haben möchten.«
    Dann zog er die junge Frau mit Yabsira auf dem Rücken durch die Menge zum Taxi.
    »Das ist Tante Fasika«, sagte er.
    Sie war Anfang zwanzig, die jüngere Schwester des verstorbenen Vaters der Kinder, Asnake.
    Die Freundin kam mit den Fotos von einem Kindergeburtstag in ihrem Haus, auf dem Mekdes und Yabsira zwei Jahre zuvor gewesen waren. Ich holte mein Notizbuch hervor und reichte es herum, bat jeden, der die Familie kannte, Namen und Adresse aufzuschreiben für einen fernen Tag, an dem Mekdes und Yabsira aus Amerika zurückkommen und ihr altes Dorf besuchen würden.
    Fasika gesellte sich zu den vier Hollingers, dem batteriebetriebenen Hamster und mir auf die schmutzige und rutschige Rückbank des kleinen altersschwachen Taxis, Haj stieg wieder vorn ein, und wir fuhren los, um den Großvater zu suchen. Inzwischen schwirrten junge Männer aus und riefen überall nach Addisu, dem Großvater der Kinder.
    Von Fasika dirigiert, bog Selamneh auf eine gepflasterte Straße neben einem aufgeweichten Marktplatz ein. Wir fuhren langsam an ihm vorbei, während Fasika aus dem Fenster sah und Ausschau nach ihrem Vater hielt.
    Es regnete unablässig, und Selamneh trat aufs Gas, um die Suche woanders fortzusetzen. Plötzlich sprangen ein paar junge Männer hinter einem Marktstand aus gestreiftem Stoff hervor und umringten den Wagen. Sie rannten nebenher, zwangen Selamneh, langsamer zu fahren, klopften auf die Motorhaube und aufs Dach, riefen irgendetwas. Das schreckte die Amerikaner auf, die zusammengequetscht auf dem Rücksitz saßen.
    »Sie haben den Großvater gefunden«, sagte Selamneh.
    »Sehen Sie.«
    Er hielt am Straßenrand an. Durch den Regen kam Addisu humpelnd auf uns zugelaufen. Ein schmaler Mann mit einem Schnurrbart, ein dreieckiges helles Wolltuch um die Schultern geschlungen. Er musterte die Gesichter der Erwachsenen, als sie ausstiegen, dann strich er mit seinen langen Fingern über das Gesicht von Mekdes, dann über das von Yabsira. Lachend und weinend zugleich nahm er beide Kinder auf den Arm. Sein Schnurrbart und seine Haare waren gelockt und kohlrabenschwarz. Er war Großvater, er bewegte sich vorsichtig und bedächtig, er war unsicher, ob er uns einladen sollte; in diesem Land gehörte er zu den Alten. Dabei war er vielleicht gerade mal fünfzig Jahre alt.
    Nachdem er seine Enkelkinder an sich gedrückt und ein paar Worte mit ihnen gewechselt hatte, fragte Addisu die Hollingers durch Selamneh, ob sie die Gräber der Eltern der Kinder besuchen wollten. Anschließend quetschte er sich, vom Geruch feuchter Wolle umgeben, zu uns auf die Rückbank, wo wir uns inzwischen wie Holzscheite einer auf dem anderen stapelten, ganz oben Yabsira. Mit aufheulendem Motor kroch das Auto eine lange gewundene Straße zu einer Kirche und einem Friedhof hinauf. Selamneh parkte, und wir stiegen aus.
    In der Ferne sah man Leute aus der Nachbarschaft und vom Markt, die sich zu Fuß aus allen Richtungen näherten. Das Wiederauftauchen von Mekdes und Yabsira mit amerikanischen Eltern war ein großes Ereignis im Dorf.
    Mit Mekdes auf dem Arm, führte uns Addisu über den Friedhof; ihm folgte Fasika, die Yabsira wieder auf dem Rücken trug. Ryan stützte Mikki, die sich von Sekunde zu Sekunde elender fühlte. Ich ging neben ein paar halbwüchsigen Jungen her, die eifrig ihre Englischkenntnisse an mir erprobten: »HallowiegehtesIhnenwieheißenSie?« Der äthiopisch-orthodoxe Priester trat aus der Kirche und schloss sich der Prozession an, deren Weg zuerst nach oben führte und dann über einen grasbewachsenen, schlammigen Hügel mit vielen frisch ausgehobenen Gräbern und wieder ein Stück hinunter.
    Wir erreichten die
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