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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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das Kind aufzunehmen, ob jemand weiß, wie man mit einem solchen Kind umgeht, ob sich irgendwo in einem fernen Land Eltern für ein solches Kind finden lassen, aber niemand will sie. An guten Tagen trägt Sara sie in den Hof und setzt sie auf eine Decke in die Sonne, so dass sie sich frei bewegen kann. Egal, ob sie lächelt oder weint, es scheint nichts mit dem zu tun haben, was um sie herum passiert. Sie erkennt niemanden. Trotzdem rufen Haregewoin und die Betreuerinnen sie weiterhin bei ihrem Namen; sie bringen sie nach draußen, wenn die anderen Kinder von der Schule nach Hause kommen und im Hof spielen, für den Fall, dass irgendetwas zu ihr durchdringt, was sie Freude empfinden lässt.
    Zemedikum, zehn Jahre, Junge, Eltern gestorben. Vom kebele gebracht.
    Betelehem, Mädchen, drei Jahre, Mutter und Vater gestorben.
    Zwei Schwestern, sprechen Guragge.
    Tsegaye, Junge, vier Jahre, aus Harar.
    Abele, sechseinhalbjähriger Junge. Waise. Vom kebele übergeben.
    Im Herbst 2005, als die Anschuldigungen gegen Haregewoin zunahmen, klopfte in einer stürmischen und regnerischen Nacht eine arme Frau aus dem Viertel an ihr Tor. »Helfen Sie mir, bitte!«, rief sie dem Wächter zu. »Ich brauche Hilfe!«
    Er ließ sie ein. Sie lief die Stufen zu Haregewoins Haus hoch; Haregewoin kam an ihre Tür.
    »Ich habe ein schwangeres Mädchen von der Straße aufgenommen«, sagte die arme Frau. Sie war sehr dunkelhäutig und mager, die Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, sie trug tropfnasse Lumpen und schmutzverkrustete Plastiksandalen. Der kalte Wind ließ sie zittern.
    »Sie hat als Dienstmädchen in einem großen Haus gearbeitet, aber dort wurde sie rausgeworfen, als man merkte, dass sie schwanger ist. Ich habe nichts, Madam, bitte verstehen Sie. Ich habe fünf kleine Kinder, mein Mann ist tot, wir leben im Dreck, und meine Kinder haben immer Hunger. Aber ich habe sie aufgenommen, um ihretwillen und um des Kindes in ihrem Bauch willen. Vor zwei Wochen hat sie einen Jungen auf die Welt gebracht. Jetzt, wo sie sich wieder ein bisschen erholt hat, redet sie ständig davon, dass sie ihn umbringen will. Sie ist HIV-positiv, und sie glaubt, dass er die Krankheit auch hat. Sie glaubt, dass sie beide einen schrecklichen Tod sterben werden und dass sie vor ihm sterben wird. Gerade eben ist sie mitten im Sturm aufgestanden und hat mich aufgeweckt, um mir zu sagen, dass sie das Baby in den Rinnstein werfen will, damit er vom Regen weggespült wird. Sie hat mich gebeten, Wasser auf ihn zu schütten, um ihn schneller wegzuspülen. Da habe ich ihr das Kind weggenommen. Sie wollte ihn nicht hergeben, aber ich habe zu ihr gesagt, ich würde einen tiefen Abwasserkanal kennen.«
    »Wo ist das Kind?«
    »Hier«, sagte die arme Frau. Sie schlug die schmutzigen Lumpen über ihrer Brust auseinander, und ein wunderschöner Junge lugte hervor, sein Mund war zu einem O geformt und seine Augen blickten ängstlich.
    »O Gott«, sagte Haregewoin.
    »Aber Sie können ihn nicht hierlassen«, sagte Haregewoin. »Ich darf das nicht tun. Das Sozialamt hat es mir verboten … Wir haben nicht die notwendigen Papiere … Es ist eine Untersuchung im Gang …«
    Die Frau war der Hysterie nahe.
    »Sie wird den Jungen heute Nacht umbringen«, rief sie. »Verstehen Sie? Dieser Junge wird heute Nacht sterben.«
    Haregewoin hatte bereits die Arme nach ihm ausgestreckt.
    »Gott wird Sie dafür segnen«, sagte die magere Frau. Sie drehte sich um und wollte rasch wieder in der Dunkelheit verschwinden, bevor das junge Mädchen entdeckte, dass sie das Kind weggebracht hatte, statt es zu ertränken.
    »Warten Sie, wie ist sein Name?«, rief Haregewoin ihr hinterher.
    »Name?«, kreischte die Frau unten im Hof. »Er hat keinen Namen. Sie hat vor, ihn umzubringen. Sie hat ihm keinen Namen gegeben.«
    Auf den Vorschlag einer Freundin hin nannte Haregewoin den hübschen Jungen Leuel. »Prinz.«
    Er lebt immer noch bei ihr, ein gesundes und schönes Kind. Er ist HIV-negativ. Wenn Haregewoin ihn auf ihr Bett setzt und ihm etwas vorsingt, wackelt er mit den Schultern, als wollte er tanzen, und sie lacht vor Freude und Liebe, bis ihr die Tränen kommen.
    Vor kurzem hat jemand ein etwa zwei Jahre altes kleines Mädchen mit rosigen Wangen vor ihrem Tor abgesetzt und ist dann weggerannt. Das Mädchen hockte auf einem Ziegelstein neben dem Tor, still und geduldig, offenbar darauf vertrauend, dass derjenige, der sie hier zurückgelassen hatte, wiederkommen und sie holen würde. Aber es kam
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