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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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Erwachsene durch Krieg und Hunger verloren hatten.
     
    Der menschliche Verstand ist nicht imstande, zwölf oder 18 oder 25 Millionen Informationsbits aufzunehmen; unsere menschlichen Vorfahren mussten gedanklich nie mit größeren Mengen als zehn oder zwanzig von irgendetwas umgehen. Für jemanden, der kein Mathematiker, Epidemiologe, Demograph, Geograph, Soziologe, Medizinanthropologe oder Wirtschaftswissenschaftler ist - für jemanden also, der allenfalls jemanden mit einem solchen Beruf kennt (wobei ich das Privileg genieße, mich mit dem einen oder anderen Epidemiologen, der in dem drei Kilometer entfernten Bundesgesundheitsamt Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta arbeitet, beim Fahrdienst zum Fußballtraining der Kinder abzuwechseln), sind Zahlen mit so vielen Nullen kaum zu begreifen. Vermutlich können viele Leute irgendwelche Berechnungen anstellen und Grafiken zeichnen, in denen Zahlen wie elf Millionen und 25 Millionen auftauchen, aber Hut ab vor jedem, der sich auch nur im Entferntesten etwas darunter vorstellen oder dessen Bedeutung ermessen kann.
    Wer sollte zwölf Millionen Kinder großziehen? Diese Frage kam mir plötzlich in den Sinn. Es gab Tage, da wurden Donny und ich schon mit unseren fünf Kindern kaum fertig.
    Wer brachte zwölf Millionen Kindern das Schwimmen bei? Wer unterschrieb zwölf Millionen Mal die Erlaubnis für den Schulausflug? Wer bereitete zwölf Millionen Pausenbrote zu? Wer feuerte bei zwölf Millionen Fußballspielen an? (Das war es jedenfalls, was wir an den Wochenenden trieben.) Wer kaufte zwölf Millionen Paar Turnschuhe, die aufleuchteten, wenn man auf- und absprang? Rucksäcke? Zahnbürsten? Zwölf Millionen Paar Socken? Wer sollte zwölf Millionen Gutenachtgeschichten erzählen? Wer fragte Donnerstagabend zwölf Millionen Kinder für den Vokabeltest am Freitag ab? Zwölf Millionen Besuche beim Zahnarzt? Zwölf Millionen Geburtstagsfeiern?
    Wer steht nachts auf und spendet Trost bei 18 Millionen Alpträumen?
    Wer tröstete und therapierte zwölf, 15, 18, 36 Millionen Kinder wegen des Todes ihrer Eltern? Wer bewahrte sie vor einem Leben als Sklavenarbeiter und Prostituierte? Wer vermittelte ihnen kulturelle und religiöse Traditionen, Geschichte und Landespolitik, handwerkliche Fertigkeiten, berufliches Wissen? Wer wird ihnen beistehen beim Erwachsenwerden, bei der Wahl des richtigen Partners, der Arbeitssuche und der Erziehung der eigenen Kinder?
    Nun, wie sich zeigt, niemand. Oder nur sehr wenige. Es gibt dazu einfach nicht genug Erwachsene. In den industrialisierten Ländern des Westens ist HIV/Aids eine chronische Krankheit geworden und kommt nicht mehr unbedingt einem Todesurteil gleich, aber in Afrika hat sie eine ganze Generation von Eltern, Lehrern, Rektoren, Ärzten, Pflegern, Professoren, geistigen Führern, Musikern, Dichtern, Beamten, Bauern, Bankangestellten, Trainern und Ladenbesitzern ausgelöscht. 19
     
    Diese verrückten Zahlen dringen bei den meisten von uns nicht tiefer ins Bewusstsein vor. So etwas passiert in unserer Zeit. Wir, die wir über die Geschichte des Völkermords an den Armeniern, den Holocaust und Stalins Gulag gelesen haben, die zu Zeiten der Gräueltaten in Kambodscha, Bosnien und Ruanda gelebt haben, stellen fest, dass wir wieder einmal auf der sicheren Seite sind. Das menschliche Leid auf der anderen Seite des Äquators mag vielleicht einen kurzen Moment lang Anteilnahme bei uns hervorrufen, aber wegen der großen zeitlichen und räumlichen Entfernung berührt es uns nicht wirklich. Das gilt selbst für die am stärksten betroffenen Länder Asiens und Afrikas, denn auch dort gibt es Leute - unter anderem die gewählten Führer -, die ganz bequem leben, während allen anderen das Wasser bis zum Hals steht.
    Die Berliner Mauer ist gefallen, und auch den Eisernen Vorhang gibt es nicht mehr, aber mittlerweile könnte man den Eindruck gewinnen, als wäre quer durch den Atlantik oder das Mittelmeer eine pulsierende Mauer aus Scheinwerferlicht, Fernsehstars und Popmusik in die Höhe gewachsen. Es ist schwer, einen Blick hinter diese Mauer zu werfen, die sich aus inszenierten Dokudramen, Nachrichtenmagazinen und »Reality«-TV-Shows zusammensetzt, mit denen wir auf hunderterlei Weise abgelenkt und unterhalten werden, während sie uns das Gefühl vermitteln, dass wir es mit wahren Begebenheiten zu tun haben. Amerika kämpft so sehr mit dem Übergewicht seiner Bevölkerung und dessen Folgen, dass die US-Amerikaner ganz vergessen, dass es
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