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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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keinen Kredit für den Besuch der Universität, für ein Auto oder ein Haus aufnehmen, der einem ehrgeizigen, strebsamen Menschen den sozialen Aufstieg ermöglicht hätte. Und was die Liebe anging (zum Beispiel zu einer Frau, die kürzlich ihren Abschluss an der Universität von Addis Abeba gemacht hatte), hatte mir Selamneh erklärt: »Ehrgeizige Eltern sehen es nicht gern, wenn ihre Tochter einen Taxifahrer heiratet.«
    Betrübt ließ er Mintesinot von seinem Schoß herunterrutschen.
    Mintesinots Auftritt brachte meine erschöpften Mitstreiter wieder auf die Beine. Alle lobten laut, wie hübsch er aussehe, während Haregewoin sich hinsetzte und einen Anruf entgegennahm.
    Unvermittelt stand sie auf und sagte: »Noch eines. Es ist unglaublich. Ich muss los.«
    Selamneh ging mit ihr, die Autoschlüssel klirrten in seiner Hand. Mintesinot hüpfte neben ihm her, zog an seinem Hosenbein, plapperte etwas von Keksen und Papa. Auf ein Zeichen von Haregewoin lief Sara zu Mintesinot, um ihn von dem Taxifahrer wegzuziehen, was zu erneutem, noch viel schlimmerem Geheul und Tritten wegen dieses Betrugs führte. » Abi! Biskut! « Er streckte die Hand, mit der er die italienischen Kekse hielt, in die Luft.
    Selamneh kurbelte sein Fenster herunter. »Später, Minty, wir fahren später zu ihm.«
    »Werden Sie ihn später denn wirklich nach Hause fahren?«, fragte ich und vermochte nicht, die Enttäuschung in meiner eigenen Stimme zu verbergen.
    Mir fiel auf, dass ich neben dem Auto stand und auf Selamneh einredete wie zuvor Mintesinot.
    »Nein.«
    »Aber er wird seinen Vater wiedersehen?«
    »Ja, er wird ihn wiedersehen.«
    Ich kehrte zu meinem Platz in dem stickigen Zimmer zurück, zu traurig, um noch einmal Zeuge einer solchen Trennung eines Kindes von seinen Eltern werden zu wollen. Ich stellte fest, dass meine Sitznachbarin, die Matriarchin, aufgebrochen war.
    »Wer war das eigentlich?«, fragte ich missmutig.
    Ich erfuhr, dass die würdevolle Frau ein überaus geschätztes Mitglied der äthiopisch-orthodoxen Kirche und eine entfernte Verwandte von Haregewoins verstorbenem Ehemann war. Mit ihrem Besuch ehrte sie das Haus - ach was, das ganze Viertel.
    Ich hätte ihr wahrscheinlich etwas mehr Platz auf dem Sofa machen sollen.
    Sara brachte Mintesinot zurück ins Haus. Schluchzend versteckte er die Kekse unter seinem T-Shirt, um sie für seinen Vater aufzubewahren.

2
    Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Hotelzimmer bei Anbruch der Dämmerung in der klaren Gebirgsluft auf. Von der Grand Mosque, der Großen Moschee, waren die ersten tiefen Töne der Gebetsgesänge zu hören - Allah, Allah -, zu denen sich bald die Stimmen aus der Medhane Alem, der äthiopisch-orthodoxen Kathedrale, gesellten - Halle-, Halle-, Hallelujah! Die ziemlich monotonen Morgengebete wurden von knisternden Lautsprechern übertragen. Bald kam noch das Wiehern der Esel dazu, die über die unbefestigten Wege trotteten, die Schritte vereinzelter Langstreckenläufer auf den schwarz asphaltierten Straßen und das Krähen von Hähnen, als die Stadt langsam erwachte.
    Am Nachmittag würde Addis Abeba in dem Staub versinken, der aus den Beton- und Ziegelfabriken entwich und von den Hufen Tausender Tiere aufgewirbelt wurde, im Rauch der Feuerstellen vor den Häusern und in Autoabgasen. Die Gebete würden ebenso wie die Flüche in der Kakophonie des Straßenlebens untergehen - schreiende Tiere und hupende Taxis; die Rufe der Markthändler und das Hin und Her der vielen tausend Fußgänger. Aber in den frühen Morgenstunden lag die höchstgelegene Hauptstadt Afrikas in klarer Luft da, und die Morgengebete schwebten hoch hinauf in den Himmel.
    Ich stand auf dem schmalen, betonierten Hotelbalkon, der über dem winzigen Bauernhof des Nachbarn mit seinen Ziegen und Hühnern thronte, und dachte über das unfassliche Geschehen in Mrs. Haregewoins Haus am vorhergehenden Nachmittag nach: den Telefonanruf, die sofort gestartete Rettungsaktion für das Kind, das Zurücklassen des kranken Vaters und die Heimkehr, wo unser noch nicht einmal erkalteter Kaffee auf uns wartete.
    Hier fand für mich eine Triage, eine Art Auslese statt. Haregewoin konnte nicht alle retten - eine Million Menschen waren in den zwanzig Jahren seit dem ersten Auftreten von Aids in Äthiopien an der Krankheit gestorben, und am stärksten waren Männer und Frauen (besonders Frauen) zwischen fünfzehn und neunundvierzig Jahren betroffen: eineinhalb Elterngenerationen. 13 Haregewoin Teferra versuchte ein
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