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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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paar der betroffenen, verwaisten Kinder zu retten.
    Ich kannte zwar ihre persönliche Geschichte noch nicht, aber ich kannte ungefähr die Zahlen, die hinter alldem standen. Als ich 2001 das erste Mal nach Äthiopien reiste (2003 lernte ich dann Haregewoin kennen), geschah das zum Teil deshalb, weil ich die Statistiken verstehen wollte.
    Sie hatten mich eines Sonntagvormittags im Sommer 2000 in Atlanta kalt erwischt.
     
    Ich saß an dem sonnigen Erkerfenster beim Frühstück, trank meinen Kaffee und befestigte einen Ohrring an meinem Ohr, die New York Times mit ihren Schreckensmeldungen vor mir auf dem Küchentisch ausgebreitet. Ich las das erste Mal vom »Kontinent der Waisen« 14 , wie die Vereinten Nationen Afrika bezeichneten. Das HIV-Virus (human immunodeficiency virus - menschlicher Immundefektvirus) und Aids (acquired immune deficiency syndrome - erworbenes Immunschwächesyndrom) hatte mehr als 21 Millionen Menschen das Leben gekostet, darunter vier Millionen Kinder. 15
    Mehr als 13 Millionen Kinder waren zu Waisen geworden, zwölf Millionen davon allein in Schwarzafrika. 25 Prozent dieser Kinder lebten in zwei Ländern: Nigeria und Äthiopien. In Äthiopien waren elf Prozent aller Kinder Waisen. 16
    Und es kam noch schlimmer.
    UNAIDS (das Aids/HIV-Programm der Vereinten Nationen) stellte die Prognose auf, dass zwischen 2000 und 2020 weitere 68 Millionen Menschen an Aids sterben würden (eine Krankheit, an der seit der Einführung der antiretroviralen (ARV) Medikamententherapie in den späten 1990ern im Westen nur noch wenige Menschen starben). 17
    Bis zum Jahr 2010 würden zwischen 25 und 50 Millionen afrikanische Kinder bis zum Alter von 15 Jahren Waisen sein. 18
    In einem Dutzend Länder würden bis zu einem Viertel aller Kinder verwaisen.
    Die Zahlen waren vollkommen verrückt.
    Zwölf Millionen, 14 Millionen, 18 Millionen - wie konnten so hohe Zahlen Antworten auf andere Fragen sein als: »Wie viele Sterne gibt es im Universum?« oder »Wie viele Lichtjahre ist der Virgo-Superhaufen von der Milchstraße entfernt?«
     
    Im Sommer 2000 waren mein Mann Don Samuel, ein Rechtsanwalt, und ich einundzwanzig Jahre verheiratet. Wir hatten zwei Töchter und drei Söhne, das jüngste unserer fünf Kinder war adoptiert: Molly war 1981 geboren, Seth 1984, Lee 1988, Lily 1992 und Jesse 1995. Sie trieben uns in den Wahnsinn, dem wir, beide in den Vierzigern, uns lachend ergaben. Wir stolperten durch das für eine bürgerliche Familie typische Chaos aus Erlaubnisschreiben, Fußballschuhen, Bibliotheksbüchern, Musikinstrumenten, Zahnarztterminen, naturwissenschaftlichen Projekten und College-Aufnahmeprüfungen. Abends entdeckte ich in meiner Hosentasche Dinge wie einen gekauten Kaugummi oder einen kleinen Ohrring in Delphinform oder eine einarmige Spider-Man-Figur (am nächsten Abend fand ich dann den fehlenden Arm in einer anderen Hosentasche). Einmal wurde ich bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen gebeten, meine Handtasche auszuleeren, und ganz am Boden lag eine originalgroße Plastikbanane. Ich hätte sogar erklären können, was die Banane in meiner Handtasche zu suchen hatte, aber da sie keine unmittelbare Bedrohung darstellte, wurde ich ohne weitere Nachfrage durchgewunken. Unser Vorgarten sah wie ein Fahrraddepot aus. Der Rasen hatte kahle Stellen vom Federballspielen.
    An diesem Sonntagmorgen hörte man unsere Kinder und ihre Freunde, die bei uns übernachtet hatten, fröhlich durchs Haus lärmen, während sie Schlafsäcke und Strandmatten von Zimmer zu Zimmer schleppten und nach Kleingeld suchten, um sich an dem Kiosk im Schwimmbad Süßigkeiten kaufen zu können. Eines der Kinder stieg ins Auto und drückte vorsorglich auf die Hupe, damit sich die Eltern endlich beeilten, obwohl die Eltern klar und deutlich erklärt hatten, dass der Ausflug ins Schwimmbad noch ein wenig warten musste. Es war der Sommer, in dem Jesse, den wir im Herbst zuvor aus einem bulgarischen Waisenhaus zu uns geholt hatten, an einem einzigen Nachmittag schwimmen gelernt hatte. Als wir ihn fragten, wie er das so schnell geschafft hatte, erklärte er uns: »Der Hai, der am tiefen Ende wohnt, hat es mir beigebracht.«
    Und plötzlich brach diese fremde Welt in unser Haus ein: zwölf Millionen Waisen bis dato, 25 Millionen Waisen morgen. Und das waren nur die Aids-Waisen; wenn man noch die Malaria- und Tb-Waisen dazurechnete, kam man auf 36 Millionen Waisen in Schwarzafrika, nicht zu vergessen die Kinder, die ihnen nahestehende
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