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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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Front begab. (Der Bluttest, der so etwas aufzeigen könnte, ist noch nicht erfunden worden.)
     
    Wie kommt es also, dass - während die meisten Menschen instinktiv versuchen, sich und ihre Familienangehörigen vor einer Katastrophe in Sicherheit zu bringen - ein paar stehen bleiben, zurückblicken und Fremden plötzlich ihre Hand reichen? Statt in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen, waten ein paar in die steigende Flut und versuchen, die Ertrinkenden auf höher gelegenes Land zu ziehen. Wie kam es, dass Haregewoin zu ihnen gehörte?
    In den kommenden Monaten und Jahren erfuhr ich, dass es genauso wenig wie es einen Bluttest zur Identifikation derjenigen gibt, die sich in den Kampf stürzen, eine Erklärung gibt, die in der Biographie begründet liegt. Man kann an keinem Lebenslauf vorhersehen, warum jener Mann oder jene Frau, die unberührt von einer Krise sind, plötzlich verkündeten: »Dagegen muss ich etwas tun.«
    In der Pirke Avot , den Sprüchen der Väter aus dem dritten Jahrhundert, steht geschrieben: »Wo es jedoch an Menschen fehlt, sei bestrebt, ein Mensch zu sein.« (2,6)
    Und Haregewoin versuchte es.
     
    Die härteste Lektion, die ich lernen musste, als ich mich dieser Geschichte annäherte, war, dass Haregewoin Teferra keine Mutter Teresa war.
    Zuerst war ich von dieser Erkenntnis niedergeschmettert. Ich hatte gedacht, ich schriebe an einer Hagiographie, an einem Kapitel über Das Leben der Heiligen .
    Aber jemanden einen Heiligen zu nennen ist nur ein Versuch von vielen, sein außerordentliches Verhalten zu erklären. Sie muss verrückt sein! Sie muss ein Ausbund an Tugend sein! Was auch immer sie ist, sie lebt in einer anderen Sphäre als der Rest von uns, was bedeutet, dass wir fein raus sind. Da die meisten von uns weder das eine noch das andere sind - weder Heilige noch Überlebende, sondern bloße Zuschauer -, wird niemand von uns erwarten, dass wir uns einmischen.
     
    Ich wurde Zeuge, wie Haregewoins Stern am Himmel erstrahlte und wie er wieder zu sinken begann. Als sie ihr Leben mit denen, die von der Pandemie zerstört wurden, zu teilen begann, wurde sie genau wie sie zu einem Niemand. Dann fing man an, in ihr eine Heilige zu sehen. Dann riefen plötzlich ein paar Leute: »He, das ist ja überhaupt keine Heilige!« und beschuldigten sie, unredlich gehandelt zu haben. Vielleicht begann sie aber auch als Heilige, wurde zur Tyrannin und dann wieder zur Heiligen. Oder war es umgekehrt? Ihre Geschichte wurde immer wieder umgeschrieben. In jedem Fall aber wurden Haregewoin nur Extreme zugestanden: Entweder war sie gut, oder sie war schlecht. Diejenigen, die sie beobachteten, urteilten gleichzeitig über sie.
    Zewedu, ihr alter Freund, wusste, wer Haregewoin war: Ein ganz normaler Mensch, der sich durch schlechte Zeiten kämpfte, etwas mehr Herz als die meisten zeigte für jene Menschen in seiner Umgebung, die litten, und dabei das eigene Wohlergehen nicht ganz aus den Augen verlor. Aber die meisten Beobachter konnten diesen nüchternen Standpunkt nicht teilen, und Ato Zewedu würde vielleicht nicht mehr lange leben.
    Aber dann hörte ich zu meiner Freude, dass einige Leute meinen, auch Mutter Teresa sei keine Mutter Teresa gewesen.

3
    An dem Morgen nach dem verregneten Nachmittag, als wir Mintesinot von der Straße aufgesammelt hatten, holte Selamneh mich vor meinem kleinen Hotel ab. Sein blaues Taxi quälte sich eine steile unbefestigte Straße hoch, dann stellten wir es ab und gingen zu Fuß weiter. Wir wanderten an endlos scheinenden mannshohen Mauern, Wänden und Zäunen entlang. Das Familienleben in Addis Abeba findet in Höfen statt, die sich hinter Wellblech, Steinmauern, Betonblöcken oder Holzoder Bambusstecken verbergen. Man weiß nie, was einen auf der anderen Seite erwartet. Es kann eine Hütte aus Lehm und Stroh sein, ein Ziegelhaus wie das von Haregewoin oder eine schicke mediterrane Villa mit Innenklo, Satelliten-Fernsehen, einer Waschmaschine, Internetanschluss und - von den oberen Balkonen - mit einer wunderbaren Aussicht auf die kühlen Entoto-Berge.
    Horden von Kindern hüpften auf der Straße herum, die an Haregewoins Hof entlangführte. Einige jagten mit Stöcken hinter Holzkreiseln her, ein Spiel, das in Amerika seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr gespielt wird. Einige trugen kleinere Kinder auf dem Rücken. Ihre wild zusammengewürfelte Kleidung passte nicht und war schmutzig. Selbst an heißen Tagen trugen viele Kinder schlecht sitzende Wintermäntel, die offenbar
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