Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

alle luegen

Titel: alle luegen
Autoren: Meg Castaldo
Vom Netzwerk:
wohl besser gewesen wäre, Nein zu sagen, aber das brachte ich nicht übers Herz. Im Übrigen war er schon irgendwie süß. Christians Gesicht erhellte sich, als sei in seinem Kopf eine Lampe angeknipst worden. Ich lächelte, ohne die Zähne zu zeigen. »Na, dann, tschüss«, sagte ich, während ich die Tür mit Nachdruck schloss. Als ich meine Einkäufe auspackte, fragte ich mich, wann er wohl wieder auf der Matte stehen würde.
    Gegen elf erschreckte mich das Telefon. Zuerst wartete ich darauf, dass der Anrufbeantworter anspringen würde, entschied mich dann aber doch anders. Immerhin konnte es Carmi sein - vielleicht wollte er sich erkundigen, wie es mir ging, um sich ganz nebenbei zu vergewissern, dass ich nicht doch zum Korea-Markt gegangen war. In dem Augenblick, in dem ich Kyles Stimme hörte, wusste ich sofort, dass mein Leben jetzt erst mal kompliziert werden würde.
    »Hey«, sagte er. Es war seine Standardbegrüßung.
    »Selber hey.« Ich hätte gerne gewusst, woher er diese Telefonnummer hatte, aber ich machte mir nicht die Mühe, danach zu fragen. Er würde mir irgendeine verrückte Story auftischen.
    »Komm rüber zur Twelfth und B.«
    »Wo ist das denn?«
    »East Village.«
    »Oh.«
    Wenn ich dahin gehen würde, hieße das, eine weitere von Carmis Regeln zu brechen. Er wäre enttäuscht.
    »Komm rüber zur Twelfth und B.«
    »Warum?«
    »Dann kannst du sie kennen lernen.« Er ließ den Hörer fallen.
    »Wen?« Ich wartete, während es in der Leitung knisterte. Ich hörte jemanden Spanisch sprechen. »Wen?«
    »Was?«
    »Ich kann dich kaum hören«, sagte ich verärgert.
    »Wieso nicht?«
    »Keine Ahnung.«
    »Kommst du jetzt rüber?«
    »Nein.«
    Er schwieg- dann: »Bis später.« Und knallte den Hörer in mein Ohr.
    »Arschloch«, sagte ich in die tote Leitung. Auch ich knallte den Hörer auf den Apparat, aber es brachte mir wenig Befriedigung.
    Ich kannte Kyle Hangerman seit elf Jahren. Wir waren zusammen in Sacramento auf der Highschool gewesen. Damals war er schlaksig, sommersprossig und pickelig gewesen und hatte widerspenstige rotbraune Haare gehabt, die von seinem Quadratschädel abstanden wie die Stacheln von einem Stachelschwein. Mit sechzehn las er alles und interessierte sich für nichts. Er war clever, aber völlig daneben. Als wir uns kennen lernten, schnüffelte er schon Klebstoff - vorzugsweise auf der Weide hinter seinem Haus. Damals gefiel es mir, dass er anders war. Wenn ich heute darüber nachdenke, war meine Faszination für ihn wohl gleichzusetzen mit dem Interesse, das man einem exotischen Tier entgegenbringt, auf das man im Regenwald stößt.
    Was Kyle an mir fand, war mir nicht ganz klar. Ich war eine Einzelgängerin. Und genau wie er war ich damals nicht sehr beliebt. Kyle war das vollkommen egal. Also fanden wir zueinander, wie zwei Außenseiter das manchmal tun, um all die zu verachten, die uns verachteten. Wir schliefen nie miteinander, küssten uns nicht einmal. Er traute sich nicht und ich konnte es mir nicht vorstellen. Es wäre gewesen, als ob man mit seinem Bruder ins Bett geht.
    Als ich dann aufs College ging, fing Kyle an, durchs Land zu ziehen. Er wurde zu einem echten Vagabunden - immer unglücklich, immer auf der Suche nach dem einschneidenden Erlebnis, nach etwas oder jemandem, der ihm den Weg zeigte. Meistens rief er mich - R-Gespräch - mitten in der Nacht aus irgendeiner Gegend an, in der ich nie gewesen war: Baton Rouge, Detroit, Buffalo. Manchmal eine Woche lang jede Nacht, manchmal einmal im Monat. Er hatte immer etwas zu erzählen: Er war Schlangenbeschwörer, Schwertschlucker-Lehrling, Gigolo, Jahrmarktaushilfe, Zoowärter, Dope-Verticker sowie -Süchtiger und so weiter. Im Laufe der Jahre sah ich ihn immer seltener. Und wenn es geschah, waren wir beide immer vollkommen überrascht von der Tatsache, dass er ein Mann und ich eine Frau geworden waren. Aber es war eigentlich unwichtig. Manchmal dachte ich, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, der mich wirklich kannte.

3
    Am nächsten Morgen klingelte es gegen zehn an der Tür. Wer konnte schon so früh etwas von mir wollen? Blöd wie ich war, öffnete ich die Tür, ohne die Kette vorzulegen. Christian stellte sich mir vor, als hätten wir uns noch nie getroffen, und schlenderte in meinen Flur, als ob er sich hier bestens auskennen würde. Ich ließ ihn gewähren, wenn auch nur aus Neugier.
    Christian sah aus, als wäre er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Er trug einen zerknitterten Anzug, sein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher