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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Brief schon geschrieben habe? Mindestens ein Dutzend Mal. Und jedes Mal radierte ich ihn wieder aus. Immer wieder nahm ich einen Anlauf, es Ihnen zu schreiben.
    Doch als ich Ihre Bilder sah, flammte etwas in mir auf. Ich bin Teresa, nicht Thierry. Ich weiß, wer ich bin. Und Sie wissen es auch.
    Können Sie mich lieben, Monsieur van Gogh?
    Wer immer ich auch bin, ich fühle eine tiefe Verbundenheit mit Ihnen.

    Es war eine Art Tragbahre.
    Doktor Tarascon ließ sie nach der Hälfte des Vortrags in den Hörsaal bringen. Ein gelungener Knalleffekt, das muss man schon sagen. Und er wusste das. Bevor er zu reden begann, malte er sich die erstaunten Blicke auf mich aus, die Komplimente und die Glückwünsche, die er erhalten würde. Er erklärte, mein Fall sei einzigartig in der Welt, jemand habe bei meinem Eintrag ins Einwohnerregister einen Fehler gemacht, doch er, Tarascon, gebe nicht auf – in meinem Interesse , zu meinem Wohl . Ich war zweigeschlechtig, Monsieur van Gogh. Beide Organe vorhanden, beide klein, schwach entwickelt, hässlich anzuschauen und beinahe funktionstüchtig. Allerdings eben zwei, so Tarascon. Und für ihn dominierte die männliche Seite. Meine späte Entwicklung, das Fehlen einiger weiblicher Attribute und einige leichte Beschwerden, über die ich klagte – all das hing damit zusammen. Das war eindeutig, sonnenklar, wissenschaftlich belegt . Er erläuterte es anhand von Theorien, Messungen, Vergleichen und Experimenten, er zitierte Bücher und namhafte Professoren.
    Es sei eine Laune der Natur, was mir da widerfahren sei. Doch zum Glück sei ja er gekommen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Er müsse nur mein Vorleben auslöschen, das, was ich gewesen war, um mich schließlich ich selbst werden zu lassen.
    Auf dem Höhepunkt seines Vortrags läutete Tarascon eine Glocke. Ich stieg auf einen schwarzen Stuhl, und zwei Männer trugen mich auf den Schultern in den Saal, jedes Mal. Sie setzten mich auf dem Katheder ab und verschwanden. Der Professor schaute seine Zuhörer an, redete noch eine Weile und gab mir dann ein Zeichen.
    Ich musste die Beine spreizen und sie auf zwei Stützen legen.
    Die Studenten waren vorbereitet, einige hatten Operngläser dabei, andere machten sich wie wild Notizen, jedes Mal gab es ein großes Aufsehen und hin und wieder auch Gelächter. Mit der Zeit war Tarascon auf die Idee verfallen, eine große Lupe genau auf die besagte Stelle zu richten, damit man besser sehen konnte, auch das kleinste Detail.
    Er berichtete von den Therapien, denen er mich unterzog, um mich vergessen zu lassen, wer ich gewesen war, um mir begreiflich zu machen, wer ich war, und mir schließlich zu meinem Gleichgewicht und zu meinem Glück zu verhelfen.
    Das Problem sei das Bewusstsein.
    Wenn selbst die Natur Verwirrung stiftete, müsse der Mensch eingreifen und wieder für Ordnung sorgen. Die Natur mache Fehler, sie wisse nicht, was richtig und was falsch sei, was sittlich sei und was nicht. Diese Aufgabe komme dem Menschen zu. Daher müsse man meine Vergangenheit eliminieren. Das sei ein titanisches Unterfangen, doch es würde der medizinischen Wissenschaft große Perspektiven eröffnen. Wenn ein Mann davon ablassen könne, eine Frau zu sein, könne auch ein Geisteskranker seinen Wahnsinn vergessen, könne ein Trauma für immer aus der Welt geschafft und ein Schmerz ausgelöscht werden. Jeder könne der sein, der er sein sollte.
    Tarascon nahm den Beifall entgegen und erteilte den Studenten die Erlaubnis, näher zu treten, mich zu untersuchen, Fragen zu stellen und mich zu betasten.
    Wenn sie kamen, bedeckte ich meine Augen. Ich war splitternackt, doch ich bedeckte meine Augen.

    Ich kann nicht mehr.
    Seit Tagen kann ich nicht mehr schreiben.
    Ich fühle mich miserabel.
    Ich fühle mich leer.
    Ich muss lachen.
    Die Schwestern beobachten mich. Vielleicht haben sie mich durchschaut. Sie tragen Röcke, die Schwestern. Und Schleier. Sie sind Frauen.
    Wer weiß, was sie mit mir machen werden.
    Ich muss lachen.
    Noch eine Szene aus Geel, Monsieur van Gogh.
    Der Platz ist menschenleer, es ist fast Morgen, ein sanfter Wind verweht die Blätter, als wollte der Frühling unmittelbar in den Herbst übergehen, Vikar Torsten steht an der Kirchtür und wundert sich, als er mich erkennt, rührt sich aber nicht vom Fleck, er sagt nichts und winkt mir zu, er weiß nicht, dass ich für immer fortgehe. Ich steige in die Kutsche, Tarascon folgt mir und schließt die Tür. Violetter Samt, weich. Die
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