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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Dorfbewohner sind in ihren Häusern, niemand ahnt, was hier vor sich geht, aber vielleicht haben sie auch Angst, haben sie begriffen, dass da etwas Merkwürdiges geschieht. »Wie kommt es, dass sie so schnell abreist?«, mag sich der eine oder andere gefragt haben. Die Pferde preschen im Galopp los. Häuser ziehen vorbei, Mauern, Pappeln. Alles ist grün und gelb, eine Mischung aus Korn und Heideland.
    Plötzlich ist mir, als sähe ich hinter uns in der Ferne – es ist nur ein Fleck, doch ich sehe ihn genau – die Umrisse eines Velozipeds, das der Kutsche folgt, ich sehe es im Spiegel der Fensterscheibe, drehe mich aber nicht um. Das Veloziped fällt zurück. Die Kutsche ist schneller. Zu schnell. Das Veloziped ist nicht mehr zu sehen.
    Wir sind nicht mehr in Geel.
    Ich heiße Teresa Ohneruh, und ich kann die Zukunft vorhersagen.
    Ich kann jedermanns Zukunft vorhersagen, nur meine eigene nicht.
    Meine Mutter verrät sie mir nicht.
    Sie verrät sie mir nicht, weil sie düster ist.
    Tarascon hat alles ausprobiert. Fingerhut, Kaliumbromid, Handfesseln und Ledermanschetten, Halsbänder mit scharfen Dornen unter dem Kinn, Weidensärge, Aderlässe und Abführmittel, Laudanum, Elektroschocks und Hypnose. Doch es hat nichts genützt.
    Es hat nichts genützt.
    Nach drei schlimmen Jahren, die ich in Bicêtre verbracht hatte, gab Tarascon auf. Mag sein, dass ihm Bedenken gekommen waren. Er sah ein, dass meine männliche Seite nicht dazu bestimmt war, zu dominieren, dass vielleicht einige Schnitte und Nähte genügt hätten, um mich zu der Frau zu machen, die ich eigentlich war. Tarascon hatte Angst.
    Deshalb schickte er mich nach Saint-Rémy.

    Meine Haare fielen alle auf einmal zu Boden.
    Mein schönes Haar, das ich für Sie gekämmt hatte, schwarz, dicht und fein wie Seidenfäden.
    Ein Schnitt mit der Schere genügte, ein glatter Schnitt, und es fiel zu Boden wie Regen. Lautlos. Ich drehte mich nicht um.
    »Mein lieber Thierry, heute haben wir eine Überraschung für dich!«, flüsterte Tarascon mir zu. »Komm herein!«, sagte er laut, und ein Mädchen erschien im Zimmer.
    »Gefällt sie dir? Und sag nicht, die Medizin, die ich dir verabreiche, sei bitter!«
    Das Mädchen trat näher. »Zieh dich aus«, befahl er ihr. Das Mädchen drehte sich um und begann sich zu entkleiden. Sie war blutjung, mit goldbraunem, lockigem Haar. Ich habe nie erfahren, wie sie heißt. Sie arbeitete am Pigalle und hatte Ärger mit der Polizei, soweit ich gehört habe. Ich glaube, Tarascon erpresste sie, doch sie war wahrlich nicht die einzige Prostituierte, die von irgendeinem Arzt in die Anstalt bestellt wurde, zur Behandlung der Sodomiten, der Impotenten oder der Patienten mit anderen sexuellen Störungen. Sie schämte sich vor mir. Daher zögerte sie, sich auszuziehen. Vielleicht aber auch, weil eine Eiseskälte durch das offene Fenster hereindrang.
    »Du bist ein Mann, Thierry. Wenn du sie berührst, wird dir das gefallen, du wirst schon sehen. Nur zu. Alles wird gut. Am Ende wirst du dich wohlfühlen.«
    Ich rührte mich nicht von meinem Stuhl.
    »Dann komm du her«, befahl Tarascon nun dem Mädchen. Sie gehorchte. Sie hatte sehr kleine Füße. Ich sah sie verlegen an, so wie ich Joëlle angesehen hätte.
    »Küss ihn«, kommandierte Tarascon, und der Blick des Mädchens schien mich um Verzeihung zu bitten. Dann spürte ich eine kalte Berührung auf meinen Lippen. »Fass ihn an!« Das Mädchen legte mir eine Hand auf die Brust, ohne Feuer, ohne Leidenschaft, und glitt langsam tiefer.
    Doch nichts geschah.

    Ich kann nicht mehr, Monsieur van Gogh.
    Es war falsch von mir, mit dem Schreiben anzufangen.
    Ich habe mich verausgabt.
    Ich habe mich zugrunde gerichtet.
    Ich bin eine Besessene geworden.
    Zwei, drei Seiten am Tag.
    Dann zerreiße ich sie.
    Und Sie, Monsieur van Gogh, wer sind Sie?
    Warum habe ich Ihren Namen auf diesen Seiten gefunden?
    Habe ich Sie je kennengelernt?
    Das hier scheint wirklich meine Schrift zu sein.

    Ich bin hier mit meiner Mutter, die Sie grüßen lässt. Kennen Sie meinen Vater, den Doktor Shepper? Wir sitzen alle drei an der Nete. Es ist ein strahlender Tag. Doktor Tarascon schwimmt gerade zusammen mit großen Hechten. Hin und wieder verschlingt er einen von ihnen. Hinter uns ist die Kirche der heiligen Dymphna. Monsieur Zoek und Edwin liegen sich in den Armen. Eine sonderbare Musik erklingt, die mich nervös macht. Meine Mutter spricht lächelnd mit mir. Immer redet sie zu viel. Wie unangenehm! Sie besteht darauf,
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