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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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morgendlichen Flucht in die Waschküche.
    Endlich war ich wieder ich.
    Ich war wieder Teresa Ohneruh.

    Seit einigen Wochen sind Sie fort.
    Ich machte mir große Sorgen um Sie, schon seit vielen Tagen. Sie wirkten zunehmend müde und erschöpft. Sie hatten lang anhaltende und häufig wiederkehrende Anfälle, die Sie zuweilen sogar wochenlang ans Bett fesselten. Sie ähnelten dem Anfall, den ich im Kempenland miterlebt hatte. Manchmal verursachten Sie sie selbst, indem Sie Farben verschluckten oder auch das Kerosin, mit dem das Personal die Lampen füllte.
    Doch Sie hörten nie auf zu malen.
    In Saint-Rémy haben Sie sich verausgabt, Monsieur van Gogh. Sie waren gekommen, um sich auszuruhen, um wieder zu Kräften zu kommen, stattdessen malten Sie wie besessen: ein, zwei, drei Bilder am Tag. Sie arbeiteten zwölf bis fünfzehn Stunden täglich. Abends eine Suppe und ein Glas Cognac – eine Ausnahme, die nur Ihnen erlaubt war –, das war alles, und schon ging es zurück an die Arbeit. Manchmal vergaßen Sie beim Malen, etwas zu trinken, sodass Sie wieder Wahnvorstellungen hatten. Sie warfen sich aufs Bett und standen tagelang nicht auf. Doch sobald Sie sich erholt hatten, gingen Sie frühmorgens hinaus, noch bevor die anderen erwachten. Sie malten jeden und alles innerhalb und außerhalb der Anstalt: Ärzte, Schwestern, Gärtner, Sterne, Olivenbäume, Maulbeerbäume, Bauern, Kranke, die Drucke, die Sie in Büchern fanden, und Totenkopfschwärmer.
    Dann sah ich Sie plötzlich nicht mehr, hörte aus Ihrem Zimmer nicht mehr Ihre klagende Stimme und fand in der Waschküche auch keine neuen Bilder.
    Ich befürchtete das Schlimmste, doch Trabuc, der Oberaufseher mit dem Schnauzbart und den breiten Schultern, erzählte uns, Sie seien entlassen worden: »Er ist freiwillig in die Anstalt gekommen und durfte gehen, wann immer er wollte.« Ich fragte ihn, ob Ihnen der Aufenthalt geholfen habe. Er sagte, es habe nichts genützt, für Ihre Krankheit gebe es kein Heilmittel, und hierzubleiben wäre sinnlos für Sie gewesen. Keiner wisse genau, was das für eine Krankheit sei.
    Hier wird niemand wieder gesund.
    Auch ich werde nicht wieder gesund. Zumal ich gar nicht hier bin, um gesund zu werden. Wie könnte ich? Was soll das in meinem Fall auch heißen, gesund werden? Eigentlich warten alle nur darauf, dass ich sterbe, und damit genug. Damit sie die Atteste und Akten vernichten können, die Gutachten und Diagnosen; damit Tarascon so tun kann, als wäre nichts gewesen; damit keine Spur von den Therapien mehr bleibt, die man mir verordnet hat, von den Arzneien, die ich eingenommen habe, von den Schröpfungen, die ich über mich ergehen lassen musste.
    Die Wahrheit ist, dass die Ärzte nicht wissen, was wir haben. Sie verstehen nicht, was es ist, das uns zu dem macht, was wir sind. Sie können den Schmerz, der uns in den Wahnsinn getrieben hat, nicht begreifen.
    Manche sagen, in Italien gebe es solche wie Frank nicht mehr, denn seine Krankheit komme nicht vom Kopf, sondern vom Bauch, sie sei keine teuflische Strafe, sondern eine Armeleutekrankheit, sie befalle Menschen, die nichts als Polenta essen. Es heißt, jetzt bekomme man diese Krankheit nicht mehr, es genüge, Apfelstückchen in die Polenta zu geben, um nicht zu erkranken. Das reiche schon, keine Anfälle mehr, keine Wahnvorstellungen, keine Pusteln auf der Haut.
    Und so stelle ich mir vor, dass in hundert Jahren vielleicht keiner von uns mehr hier sein wird, dass wir alle frei sein werden, dass unsere Krankheit nach und nach als eine Krankheit wie jede andere betrachtet wird, doch dann packt mich wieder die Verzweiflung, weil das nicht gerecht ist, weil ich hier drinnen sterben werde.

    Ein ganzes Jahr, und ich fand nicht den Mut, Sie anzusprechen. Wie oft stellte ich mir vor, Sie abends aufzuhalten, Ihre Hand zu nehmen und zu sagen Ich bin’s . Ich bin Teresa. Dieses Gesicht, das Sie an nichts erinnert, gehört Teresa, und dieser Körper, dieser schmutzige Kittel, diese nackten Füße, die zurückweichen, wenn Sie sie anschauen. Ich bin das Mädchen, das Sie in Geel willkommen hieß, das Ihnen den Kaffee brachte und Ihnen Ihre erste Leinwand kaufte.
    Doch ich sprach Sie nicht an.
    Ich konnte es nicht.
    Darum begann ich zu schreiben.
    Mir blieben nur die Worte.
    Zunächst brauchte ich Papier. Es gibt hier nur einen Ort, wo man Papier findet, das niemand braucht, das Anstaltsarchiv mit den Patientenkarteien. Wir werden hier drinnen bewacht, jeder unserer Schritte wird
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