Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
beide, hier?

    Sie glauben mir nicht, dass ich durch Sie wieder merkte, dass ich noch lebe?
    Ausgerechnet Sie waren es, ein mittelloser, gescheiterter Maler .
    Das sind Ihre Worte, ich habe sie hier oft gehört, in diesem Labyrinth aus orange-weißen Gängen, im Schatten der riesigen, vom Blitz getroffenen Pinie im Garten, im Vorbeigehen an Ihrem Fenster mit Blick auf die Hügel. »Ich bin ein mittelloser, gescheiterter Maler.« In Ihrem ganzen Leben haben Sie nur ein einziges Bild verkauft, Absinth und Tabak haben Sie zugrunde gerichtet, Sie haben keine Zähne mehr und einen Verband am linken Ohr, das Sie sich wer weiß warum abgeschnitten haben. Mit Ihren Leinwänden werden im Winter die Öfen angeheizt. Sie sind höchstens einen Teller Linsen im Wirtshaus wert oder ein Paar alter Schuhe, und auch das nur, weil es barmherzige Menschen gibt.
    Trotzdem, Sie haben mir gezeigt, dass die Welt außerhalb dieser Mauern noch existiert. Nein, Monsieur van Gogh, wir werden niemals untergehen. Man kann uns fesseln, uns einsperren, uns entkleiden, uns kahl scheren und uns unseren Namen nehmen. Man kann uns in Wannen mit eiskaltem Wasser stecken, uns die Mandeln und Zahnwurzeln herausreißen und uns mit den Fingern die Augen in die Höhlen drücken, um uns ruhigzustellen.
    Doch wir halten durch.
    Weil wir das Land der Farben erreicht haben und in diesen Bildern sind. In diesen Bildern sind Sie. Sie sind ein kleines Café, eine Heugarbe, eine Treppe, ein Granatapfel, eine Mühle, der Zweig eines Mandelbäumchens. Sie sind überall. Wenn Sie Gelb in sich haben, nimmt auch der Himmel diese Farbe an. Wenn Rot in Ihnen ist, überflutet das Rot eine Talebene, füllt Dächer und Holzschuhe und gelangt in die Augen der Frauen, in Baumstämme und in alle Handläufe der Häuser. Da sind Kühe in Hellblau, weil sie die stille Heiterkeit eines Sees haben, und da sind kleine, gelbe Häuser, unruhig und aufgeschreckt wie Wespen. Und da bin ich. Auch ich bin ein Stuhl, ein Boot, ein Mühlenflügel. Wir sind alle da. Geel ist da. All der sinnlose Schmerz ist da, dieser Schmerz, der uns vernichtet. Doch auch all die Hoffnung ist da, die noch sinnloser ist. Da sind wir, arme, verhinderte Wunder. Und da sind all die Wege, die Sie gegangen sind, all die Schuhe, die Sie zerschlissen haben, all die Schritte, die Sie getan haben. Die wir getan haben. Um uns hier wieder zu begegnen.
    Im Irrenhaus von Saint-Rémy.
    Zwei arme Irre.
    Wir sind nichts weiter als zwei arme Irre.

    Sie tauchten plötzlich auf, unter dem Gewölbe am Eingang, in Begleitung von Doktor Peyron, dem Direktor der Anstalt. Das war an einem Tag im Mai, um die Mittagszeit, unmittelbar nach dem Essen. Die Schwestern kamen in den Raum und ließen mich aufstehen. Es war Zeit für den Rundgang im Garten. Wortlos ging ich hinaus und reihte mich bei den anderen ein.
    Ich habe auf Sie gewartet, habe seit jenem Tag in der Waschküche auf Sie gewartet, ich wusste, dass Sie irgendwo in der Nähe waren, ich hatte von den Pflegern ein paar Bemerkungen über einen exzentrischen Gast aufgeschnappt, der immer frühmorgens mit einer Palette und einer Staffelei aufbrach und spätabends zurückkehrte, der ein Zimmer ganz für sich allein hatte und nichts mit den anderen Verrückten zu tun haben wollte, der hinausdurfte, auch aus dem Garten, bis hinter die rote Umfriedungsmauer, und der abends, wenn er zurückkam, auf einer Leinwand, die er stets bei sich trug, die Außenwelt mitbrachte.
    Ich schaute Sie an.
    Sie kamen mir entgegen. Ja, kein Zweifel. Die Haare, die Art, die Hemdsärmel aufgerollt zu tragen, der resignierte Schritt, die schwarzen Hosen und die fliederblaue Jacke, dazu die gelbe Fischermütze. Wir gingen aufeinander zu, es fehlten nur noch wenige Meter, das Herz schlug mir bis zum Hals, ich wollte Sie beim Namen rufen und Sie sofort auch beschützen, wollte Ihnen raten, von hier zu verschwinden. Doch Sie hielten den Blick gesenkt, ohne auf uns zu achten. Unsere Neugier, unser Bedürfnis, Sie in unser Schicksal einzubeziehen, war Ihnen unangenehm.
    Sie gingen vorüber.
    Ich drehte mich um.
    Sie aber gingen weiter.
    Sie hatten mich nicht erkannt.
    Doch das war mir egal. Ich war wieder froh, nach so vielen Jahren.
    Mit jenem Augenblick begann alles von Neuem.
    Mit dem täglichen Warten auf Ihr Gesicht. Mit dem Grün der Oliven, die Sie, fest in der Hand, mit ins Irrenhaus brachten. Mit den gestohlenen Worten auf den zerknitterten Seiten, die ich in Ihrem Abfallkorb fand. Mit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher