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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Shepper, ob der König ihm auf seinen Brief antworten werde. Madame Vanheim beschäftigte der Baumwollpreis und Vikar Torsten, wo er seine Brille gelassen hatte.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Da ich auf all diese Fragen keine Antwort hatte und auch nicht sagte, wie reich man mit Kaffee werden konnte oder ob ein Mädchen schwanger war, waren sie es bald leid, mich um Auskunft zu bitten, da die Leute nun mal schnell die Lust verlieren. Vielleicht dachten sie ja auch, ich hätte ihnen helfen können und wollte die Zukunft nur für mich behalten. Und da die Leute genauso schnell vergessen wie sie die Lust verlieren, vergaßen sie die Ereignisse in der Mine rasch wieder und auch meine Prophezeiung. Und mich.
    Alle, außer den Verrückten.
    Auf ihre Fragen hatte ich immer eine Antwort parat.
    War das kindliche Bosheit, Monsieur van Gogh? Wer von uns hat nicht schon mal einem Verrückten, einem Greis, einem Kind oder einem Betrunkenen einen Bären aufgebunden? Hat ihm zugehört und dann gesagt, dass er nicht die Bohne verstanden habe, oder hat das Gespräch einfach abgebrochen, weil er keine Lust mehr hatte? Ist das nicht eigentlich so, wie wenn man Ameisen quält, auf sie tritt und dann abwartet, ob sie das überleben; wenn man beobachtet, wie sie sich wieder aufrappeln, unsicher und hinkend, und dann erneut drauftritt und anschließend betrübt ist, weil man sie nun doch getötet hat? Ist es nicht so, dass wir zeit unseres Lebens immer jemanden suchen, der schwächer ist als wir, nur um ohne Konsequenzen boshaft sein zu können? Ist der Mensch schlecht? Bin ich schlecht?
    Die Verrückten kamen nach der Novene zu mir. Sie umringten mich, und jeder drängelte, wollte der Erste sein. Sie fragten mich, was aus ihnen werden würde. Die vornehme Madame Russel war wegen ihres aufrührerischen Wesens entmündigt worden, obwohl doch der Arzt unter einer Decke steckte mit ihren Kindern, die vorzeitig an ihr Erbe herankommen wollten? Die Enkel würden sie rächen und ihrerseits die Eltern ins Irrenhaus stecken. Ernani sprang während des Mittagessens auf, um einem Ball aus Lumpen nachzulaufen? Eines Tages würden das alle tun. Der rasende Halois ertrug die Kette nicht länger, die er am Fuß hatte? In Wahrheit war diese Kette das Zeichen einer Königin aus einem fernen Land, die einstmals nach Geel kommen und ihn als ihren Sohn anerkennen würde.
    Erinnern Sie sich an Geel, Monsieur van Gogh?
    Das Dorf hat den Namen einer Farbe, auch wenn niemand weiß, weshalb: das gelbe Dorf. Es ist die Hauptstadt der Könige und Königinnen, in der es mehr Adlige gibt als in London oder Paris; in der man mit einer Leiter aus dem Haus geht, um zu den Sternen zu gelangen; in der man Gold gegen Brot eintauscht; in der die Kinder Männer an die Hand nehmen, um ihnen den Weg zu zeigen; in der die Glocken nicht läuten, um den Schlaf der Verrückten nicht zu stören, und in der Ludwig XIV . einen Boxkampf mit einem anderen Ludwig XIV . austrägt.
    Kann das alles in Vergessenheit geraten?
    Davor habe ich Angst.
    Oft frage ich mich, warum ich Ihnen schreibe.
    Manchmal überfällt mich diese Frage mitten in einem Satz, dann halte ich inne, lege die Feder weg und denke, dass es dumm von mir war, diesen Brief überhaupt zu beginnen. Vielleicht wissen Sie nicht einmal mehr, wer ich bin. Ich sollte den Brief zerreißen, so wie auch Sie es mit Ihren Briefen zuweilen getan haben. Doch dann sage ich mir wieder, nein, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Ich muss Ihnen schreiben. Denn ich habe die Hoffnung, dass Sie mir antworten. Weil Sie mich verstehen. Dessen bin ich mir sicher.
    Ich muss mich erinnern, wer ich war.
    Ich schenkte Geel Geschichten. Und wenn ich noch einmal das Mädchen von vor mehr als zehn Jahren sein möchte, das fünfzehnjährige Mädchen mit den schwarzen Haaren, wenn ich zurückkehren möchte, noch einmal von vorn beginnen möchte, dann muss ich auch all diese Geschichten noch einmal erzählen. Meine Geschichte. Vor allem meine.
    Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf seine Geschichte?
    Es gibt nicht nur Könige und Königinnen, Primaballerinen und Zeitungsbesitzer, große Admiräle und Heeresführer. Wichtiger für die Welt sind die Sämänner, die Weber, die Grubenarbeiter, diejenigen, die die Stoppelfelder abbrennen, und die, die das Korn mahlen, die Arbeiter, die Prostituierten, die Frauen, die zwischen den Obsthecken umherschlendern, und die Zypressen, die im Abendrot erstrahlen. Sie alle sind es, die die Welt ausmachen.
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