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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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falsche Kranke. Auf dem Umschlag stand An Mademoiselle Teresa Ohneruh , ich sah ihn allerdings nur kurz, Madame Vanheim ließ ihn unverzüglich in ihrer Schürzentasche verschwinden.

    Mir ist, als wäre ich wieder in Geel, Monsieur van Gogh. Mir ist, als wäre ich wieder in jener Straße, wieder dort, im gelben Dorf. Da ist das Haus der Vanheims, die sich öffnende Tür, der schwarze Schlamm, der Kübel zum Auffangen des Regenwassers, das Gasthaus, der Geruch nach Schweinefleisch, die anderen Häuser, alle weiß, alle gleich, mit ihren gelb-roten Dächern, alle in einer Reihe. Da ist Petite Colbert, die auf ihrer Geige spielt, immer zu schnell, die Töne sind zwar sauber getroffen, doch das Tempo ist beunruhigend. Da ist Hester Prynne, die sich zur Schau stellt, auf dem Weg zur Kirche. Und da ist auch Edwin, an die Hauswand der Drogerie gelehnt, groß, blond, am ganzen Körper schlotternd, seit er aus Afrika zurück ist. Hin und wieder schreit er etwas und hält sich die Ohren zu. Er hört noch immer das Krachen der Geschosse, mit denen er im Kongo in der Nähe einer Goldmine ein ganzes Dorf niedergemäht hat. Da ist Monsieur Zoek mit seinem Schnauzbart und seiner unangenehmen Art. Und Doktor Shepper, der mit seiner Zeitung unterm Arm und seinem Monokel im Gesicht nachdenklich spazieren geht. Am Eingang der Kirche steht der Vikar. Mir ist, als hörte ich ihn jetzt noch: »Jeder Mensch, ob reich oder arm, ob stark oder schwach, kennt Augenblicke, in denen er das Gefühl hat, dass er nicht mehr weiterkann, dass sich alles gegen ihn verschworen hat, Augenblicke, in denen er sieht, wie das, was er aufgebaut hat, zusammenbricht. Wie stellt man es an, da nicht die Hoffnung zu verlieren?«
    Ich spüre den Ärmel von Franks Flanellhemd unter meinen Fingern. Es hat Löcher. Auf der anderen Straßenseite sind einige Kinder. Barfuß. Sie zeigen auf meinen Verrückten und tuscheln. Sie lachen ihn aus, ziehen Grimassen. Ich sehe sie böse an, und sie senken den Blick. Ich stütze Frank, er hat eine Krücke und hinkt, trotzdem bemüht er sich, ein Bein vor das andere zu setzen. Es ist laut, doch das bemerkt er nicht. Im Hause ist es, als wäre er gar nicht da. Er wird weggesperrt, in den Keller der Vanheims. Nur ich gehe mit ihm hinaus, damit er ein wenig frische Luft schnappt, damit er wenigstens zur Novene geht. Sie stellen ihm einen Fressnapf vor die Tür wie einer Katze. Er kippt sich das Essen immer über die Kleidung. Er ist uns unheimlich. Seine Haut, auf der sich Tag für Tag neue Pusteln bilden, widert uns an, sein ganzer Körper ist schon übersät damit. Madame Vanheim tut so, als sähe sie es nicht. Die Kleinen ekeln sich. Und Monsieur Vanheim beschwert sich von Zeit zu Zeit: »Kein Mensch hat uns gesagt, dass er so ist. Man hätte uns wenigstens vorwarnen können!«
    Frank ist verrückt. So wie meine Mutter verrückt war. So wie viele hier in Geel verrückt sind, mehr als in den Registern verzeichnet sind. Verrückte, die seit vielen, vielen Jahren hier sind, die mit den anderen zusammenleben, die niemandem etwas zuleide tun und die nur in den seltensten Fällen genesen.
    Nur ich leiste Frank Gesellschaft. Ich sage mir, dass meine Mutter bestimmt den gleichen Eindruck gemacht hat wie er. Gewiss, sie hatte nicht diesen Ausschlag, diese schwarzen Pusteln, wie Fliegen, die ihn auffressen wollen und seine Arme befallen wie einen Kadaver, den sie aussaugen können. Vielleicht gab meine Mutter auch nicht so einen zischenden Laut von sich, wie ein sterbendes Tier, wie er aus Franks Mund dringt, wenn er müde ist. Vielleicht hielt sich die alte Ohneruh allein auf den Beinen, ohne zu stolpern. Trotzdem ist mir, wenn ich meinen Verrückten zur Kirche bringe, als stützte ich sie.
    Ich setze Frank auf den Boden, streichle ihm über den Hals und lasse ihn dort sitzen. Ich beginne, an seiner Stelle zu beten, denn er kann das nicht, ich mische mich unter die anderen Kranken und umkreise im Prozessionszug den Altar der Heiligen. Viele klammern sich an mich. Anfangs habe ich Angst. Doch das vergeht, und so nehme ich sie bei der Hand. Ich kenne sie und fühle mich wie eine von ihnen. Ich bin anders als sie, Monsieur van Gogh, denn ich habe nicht diesen verlorenen Blick, mein Haar ist nicht wirr, beim Beten kichere ich nicht, beim Sprechen zische ich nicht, beim Singen schreie ich nicht, ich tanze nicht aus der Reihe und habe keine Brandmale auf dem Rücken und an den Händen. Andererseits bin ich auch wie sie, denn auch ich möchte
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