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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989
Autoren: Walter Kempowski
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und Helmut Kohl in Dresden /Auf dem Weg zu einer Vertragsgemeinschaft
     
    Regen, warm. - Morgens am«Echolot», abends am«Sirius». Gestern die Ruine der Frauenkirche, das Pendant zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Ein«Mahnmal». Die Menschen riefen:«Rote raus!»- Im«Spiegel», der ganz auf Wiedervereinigung eingeschworen ist, Interview mit Arbeitern, die alle für Wiedervereinigung sind. Von der Frau, wie heißt sie noch, wollen sie sich nicht regieren lassen. - Modrow mit seinen schlecht geschnittenen Haaren. Daß er auf der Etage wohnt mit Klingelknopf unten
an der Haustür, nehmen sie ihm gut. Das ist wohl eher seiner Kleinbürgerlichkeit zuzurechnen («geschuldet», wie es jetzt heißt).
    Rumänien und Panama. Letzteres wird von den Linken herausgestellt, Rumänien hingegen - nur peinlich berührt zur Kenntnis genommen. Im TV sah man ein Tonband laufen, man hörte Schüsse, und dann wurde der Geräuschpegelanzeiger gezeigt, wie er immer hochschnellt bei jedem Schuß.
    Bush sagt: Man muß was unternehmen gegen diesen Typ in Panama, der ihm im übrigen den Krieg erklärt hat. Man weiß eigentlich gar nicht so recht, um was es geht.
    Vorgestern Polizeifilm aus China, wie chinesische Polizisten tibetanische Priester verprügeln. Auch darüber schweigen die Linken sich aus, das ist nicht demonstrationswürdig. Die andern schweigen auch. Ein allgemeines Schwamm-drüber.
    Telefon: Schmidt, Filmproduzent aus Köln. Wahrscheinlich macht er einen Film über Kempowski in Rostock und einen über Bautzen. Möglicherweise«nimmt er»auch die Lesung in Rostock«mit», wie er sagt.
    Selbstmörderischer SPD-Parteitag. Dieter Lueg:«Nun haben sie ein Programm, jetzt müssen sie dafür auch noch Wähler finden.»Lafontaine ist so einer, auf den die Deutschen hereinfallen. Eine Art Blechbüchsengeneral. Wie gut, daß er rhetorisch so unbegabt ist.
    3.30 Uhr - und kein Schlaf. Heute erfuhr ich, daß der Verlag noch immer kein Exemplar von Keeles Kempowski-Konkordanz gekauft hat. 20 $ kostet sie. Insgesamt wurden in Deutschland nur sieben Stück geordert, sagt Keele.
    In der Vergangenheit gibt’s keine Rätsel mehr, hat irgendeiner geschrieben. Stimmt das? Natürlich nicht. Ich sehe das am«Echolot». Noch nie habe ich die Einzigartigkeit von Menschenschicksalen so empfunden wie jetzt. Jeder«Zeuge»sagt, und jeder erlebt was anderes. Ich habe bei der Arbeit am«Echolot»das Gefühl, etwas wirklich Wichtiges zu tun.
    Vielleicht sollte ich die Befragungen intensivieren, wie Leiris es mit den Schwarzen getan hat.

    In Adornos 1944/45 geschriebenen Aufzeichnungen«Minima moralia»gelesen:
    In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er sich niederläßt, wohl fühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.
    Leider hat Adorno nichts datiert. Gerne hätte ich etwas von ihm ins«Echolot»übernommen. Ob man an die Briefe rankommt? Eine Dame aus Berlin:«… die wirklich grenzenlose Freude der Menschen. Wie sie in ihren Trabis mit staunenden Augen durch die Stadt fahren … Die viel beschimpfte Freiheit bei uns - was mag wohl in den Linken vorgehen, die uns den Sozialismus stets als das höchste Glück gepriesen haben?»Sie fügt ein kleines, selbst abgeschlagenes Stück Mauer bei. - Eine Dame aus Frankfurt wundert sich, daß niemand über die Gefängnisse der DDR etwas geschrieben habe.
    Schluß. Auf dem Rücken liegen und auf den Schlaf warten. Die wichtigste Entscheidung: Das Licht ausmachen, sich in das dunkle Reich begeben, den Schritt ins Jenseits wagen. Die Angst vorm Lichtausmachen. Die schwarze Nacht, die Müdigkeitsbetäubung.
    Die Träume sind Kehrseite der Medaille. Alle Dinge umdrehen und neu arrangieren.

Nartum
Do 21. Dezember 1989
    Bild: Rumänien: Schon 4000 Tote / Sie erschießen Kinder
    ND: François Mitterand zum Staatsbesuch in der DDR / Wirken für ein Haus Europa, in dem die Menschen aufeinanderzugehen
     
    Man kann nicht verstehen, was die Leute an Hitler fanden: sein Aussehen, seine Stimme, das Niveau seiner Reden. Eines hat sie fasziniert, die schwachen Bürger mit ihren Hodenbrüchen und Kröpfen: Hitler wußte was er wollte; sein Wille hat
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