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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989
Autoren: Walter Kempowski
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sie mitgerissen. Er sagte ihnen, wo’s langgeht, das hat ihnen imponiert in ihrer Hü und hott-Zeit. Daß es ein Weg ins Verderben war, ließen sie sich nicht träumen. - In der Liebe gibt es gelegentlich den gleichen Effekt: auf jemanden hereinfallen,«Kind, bist du denn blind?»
    Bremen, Focke-Museum. - Ich kaufte 250 Feldpostbriefe für 250 Mark! - Auf dem Hof Hunderte von 50er-Jahre-Vasen und Aschenbecher, nach Farben und Formen geordnet. Hübsche Idee, aber - wer macht sie sauber?
    Mord und Todschlag in Rumänien. Auf bundesdeutschen Straßen läßt sich kein sympathisantischer Demonstrant blicken.
    Mitternacht. Die Sowjets sperren die Öl-Pipeline nach Rumänien. Das ist wohl das Ende für den Titan der Titanen. Während einer Rede vor seinem Parteivolk sah man ihn heute vor dem Geschrei und Pfeifen seiner Landsleute zusammenzucken, ein Geheimdienstler huschte hinter ihm vorbei und flüsterte ihm zu, er soll aufhören … Die zunächst noch hörige Menge, wie sie sich von ein paar Mutigen herumkriegen, umdrehen ließ und zu pfeifen anfing. - Nun dauert es nur noch ein paar Tage. Das alles ist der großen Sowjetunion zu danken. Ihr sind auch die 40 elenden Jahre zuzuschreiben, und deshalb sollte man nicht überschwenglich werden.
    Dagobert Lindlau war zu sehen, wie er die rumänischen Kommunisten anklagt. Noch vor ein paar Wochen hat er bestritten, daß dort Dörfer zerstört werden. So was fällt heute alles unter den Tisch. Hat er denn nicht«das Gesicht verloren»? Die Sicherheit, mit der er das abstritt damals, ist uns noch im Gedächtnis.
    Noch haben die Medien uns alte Bautzen-Häftlinge nicht wiederentdeckt.«Kennzeichen D»hat mich als Auskunftsbüro benutzt. Wollte aber nur zwei alte, längst gestorbene SPD-Zeugen feiern. Sie kämen noch auf mich zu, haben sie gesagt.

    Fühle mich matt. Mal sehen, ob es wieder so eine wache Nacht wird.
    Günter de Bruyn hat den Thomas-Mann-Preis gekriegt. Sehr schön! Ich freue mich für ihn.
    In meiner Heizung klingelt es wie Alpenbach-Rauschen. Die Heizungsleute haben sie wohl nicht richtig aufgefüllt.
    Ich habe mir das Rußland-Buch von Koeppen bestellt, mal sehen, wie ihm die SU erscheint. Da ist er vielleicht weniger kritisch? - Bedauern, mit ihm damals nicht eingehender gesprochen zu haben. Bienek hat sich regelmäßig um ihn gekümmert. Eine Schule der Wahrnehmung.

Nartum
Fr 22. Dezember 1989
    Bild: Nieder mit dem Schlächter / Bukarest in Flammen / 400 Tote? /Panzer überrollen Demonstranten / Studenten an die Wand gestellt / Und Ceausescu mordet weiter
    ND: Gregor Gysi-François Mitterand: Es darf nichts geschehen, was Stabilität gefährdet
     
    Anruf aus Gelbensande, daß sie sich auf mich freuen. - Kämpfe in Rumänien. Armseliges Volk, tatteriger Titan der Titanen. Offenbar haben sie ihn geschnappt. - Öffnung des Brandenburger Tores, befreiend, erfrischend, aber doch auch viel Klamauk. Endlos läßt sich Begeisterung nicht hinziehen. Wieso ist die Öffnung des Tores so wichtig? Man kann doch drumherumgehen? - Fechner hat wieder einen Preis gekriegt, dabei wurde auch ich gnädig erwähnt. Er habe Kempowskis Klischeesprache als Kabarett verwendet oder so ähnlich.
    In der Nacht kamen KF und Renate. Wir saßen am Kamin, die Hunde dabei. Sie erzählten von den Tagen des Mauerfalls. Wüste Bilder aus Rumänien. Ceauçescu: Dies erstaunte Aufhorchen, als sie ihn auspfiffen. Ein Hubschrauber schwankt heran … Ein Herr aus Ost-Berlin fragt an, ob ich Stalingrad-Briefe habe, er will eine Sammlung für Reclam vorbereiten.

    Heike schreibt aus Hannover, sie habe die«Hundstage»in der Badewanne liegend begonnen, da seien ihr einige Erinnerungen an Nartum gekommen, an die Sommerlaube.«Dagmar und ich haben während des Adventssingens über tausend Dinge lachen müssen, die wir so bei Dir erlebt hatten …»
    Was gibt es denn bei mir zu lachen?
    Hildegard:«Ich bin kein Vorausdenk-Mensch.»
    Herder habe gemeint, man müsse statt«teutsch»oder«deutsch»- «theutsch» schreiben. Es sei ein zischender Buchstabe.
    Wehmütiges Erinnern an Kinderzeiten. Adventszeit, wir alle um den großen Tisch, Laubsägearbeiten, Nüsse usw. Und Mutter singt:«Süßer die Glocken nie klingen …»Der Geruch von Goldbronze.

Nartum
Sa 23. Dezember 1989
    Bild: Ceauçescu gestürzt - schwere Kämpfe in der rumänischen Hauptstadt/Freudentränen am Brandenburger Tor: Es ist offen / Frohe Weihnachten, Deutschland / Momper: Berlin, nun freu’ dich! / Kohl und Modrow ließen Friedenstaube
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