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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989
Autoren: Walter Kempowski
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Lebensfreundin, ich auch, wir machten uns gegenseitig Komplimente. Es freut sie, daß ich jetzt alt aussehe, nicht mehr wie ein Jüngling.
    «Leidet Ihr Mann darunter, daß er so jung aussieht?»ist sie mal von Karin Struck gefragt worden.

    Ich höre, daß Rühmkorf ein absoluter Hypochonder sei. In Amerika hätten sie jeden Tag gedacht, der überlebt die Nacht nicht. Vor einiger Zeit habe er sich untersuchen lassen, Leber und alles wär’ völlig in Ordnung. Und wir hätten ihn fast nicht wieder eingeladen, um ihn zu schonen.
    Klaus Mann - ein Schriftsteller, der seinen Roman«Symphonie pathétique»nennt, muß ein Blindgänger sein. Der arme Vater!«Missa sine nomine»- so was gab es auch. Das ist nicht ganz so schlimm.
    22 Uhr. - Es regnet. Ein Rauschen und Schütten auf dem Fenster. Ich stelle die Alarmanlage ab und befreie die Katze aus dem Klo, weil dort der Regenlärm auf den schrägen Fenstern unerträglich ist. Sie wird es mir danken.
    Die liebe Nacht, und ich höre Schönbergs 1. Quartett und lese in der«Legenda aurea»: was die Menschen für ihren Glauben riskierten und erduldeten …
    Der untergehenden Überlieferung hinterherlaufen. Den versunkenen Jahrhunderten nachlauschen. Je abstrakter die Musik ist, desto besser paßt sie dazu.
    Selbstmord: Benjamin meint, es lohne die Mühe nicht. Sein mysteriöser Tod, die Sache mit der Aktentasche. Hierüber machen sich die Menschen mehr Gedanken als über das Passagenwerk. Ein Sprichwort fand ich: Wenn alle Stricke reißen, sagte der Bettler, so häng’ ich mich.

Nartum
Di 3. Januar 1989
    Bild: Zwillinge (2½ Jahre) sprangen aus 3. Stock - beide leben
    ND: Hohes Leistungswachstum, allseitige Planerfüllung
     
    T: Ich habe vergessen, zum Unterricht zu fahren, kann im Terminkalender nicht erkennen, wann ich welche Stunden zu geben habe, und das Telefon funktioniert nicht.

    Unser Seminar ist in vollem Gange. Sich auffällig benehmende Menschen sind darunter. Eine Frau fragt, warum das Klo unten für Herren und das Klo oben für Damen reserviert ist - wieso nicht umgekehrt? - Sie nimmt aus Bedürftigkeitsgründen umsonst teil an unserer«Veranstaltung».
    «Wie merken Sie, daß die Gedanken kommen?»
    Sie läßt was«impulsiv los», sagte eine jüngere Teilnehmerin, die ein rotgestreiftes T-Shirt trägt und sich an mich drängt, wenn’s eben geht.
    Ich fische Plankton, was reichlich zu haben ist.
    Die drei Zwischenbücher meiner«Deutschen Chronik», das Hitlerbuch, das Buch über Konzentrationslager und das über Schule, enthalten sehr viel Plankton. Von der Kritik wurden sie abgetan. Im Literaturbetrieb herrscht die Meinung vor: Das kann ja jeder, die Leute ausfragen.
    Aldous Huxley schreibt irgendwo, er habe den Eindruck, als blättere in ihm ein Idiot unablässig Fotos auf. Das sind die«Eidetischen Phänomene», wie ich sie nicht ganz zutreffend bezeichne. Die«endogenen Bilder»(Benn).
    Am Abend zeigte mir Hildegard den Sirius. Arm in Arm standen wir auf der Straße und sahen uns, die kalten Wangen aneinandergelegt, den fernen Großstern an. Das darf ich niemandem erzählen: Der Kempowski schreibt einen Roman über den Hundsstern und hat ihn noch nie gesehen.
    Irre Angaben über dessen Größe.
    TV: Endlose Ski-Scheiße. Um 100stel Sekunden geht es.
    Im Radio die Komposition«Schiffsruinen»von Tschaikowski, nervend. Die Unterwassermusik unserer Kulturfilmer vorwegnehmend.
    Mitternacht: Ich habe mir eine Valium genehmigt, da ich zu aufgedreht bin vom Anprall der vielen Leute (es sind diesmal 76!) und der verschiedendsten Organisationsfragen. Sie sind quietschfidel, all diese Leute, aber sie laufen durcheinander, und die Stühle stellen sie kreuz und quer. Und anstatt sich anständig hinzusetzen, sitzen sie quer auf der Treppe oder auf den durcheinanderen Stühlen im Saal.

    Ich möchte mich gern mit ihnen unterhalten, aber meist sind sie erschrocken, wenn ich sie anspreche.

Nartum
Mi 4. Januar 1989
    Bild: Blitzeis bei Tempo 160/Minister Haussmann: So kam ich lebend raus
    ND: Kollektive im Wettbewerb zum Wohle des Volkes
     
    Dank der Pille schlief ich gut. Jetzt rumort es unten, in einer Stunde beginnt das Seminar, und bevor es beginnt, muß aufgeräumt werden: Stühle richtig hinstellen, Klos säubern usw. Pflicht erfüllen. - Also aufstehen.
    Am Fenster stehen, bauchwalkend: Rauhreifgarten, alles weiß. Das kommt uns zustatten! Das geht à conto des Literatur-Seminars. Die denken, das ist hier immer so, und sie werden sich ewig daran erinnern: In
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