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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989
Autoren: Walter Kempowski
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vergesse, daß dieser Durchbruch durch den engen Kanal in meinem Roman nur eine Allegorie für den Geschlechtsakt ist, wie sollen meine Leser drauf kommen?
    Hildegard schenkte eine Flasche Pfefferminzlikör, worüber ich mich herzlich freute. Grün muß er sein, sonst ist er nicht richtig. Vom Sommerclub nichts. Also aus.
    Aus dem Archiv:
    Viele Winterabende verbrachten Leni und ich in der gemütlichen Herd-Ecke von Leibolds Küche. Dieser Herd war ein wahres Prunkstück und hielt keinem Vergleich zu irgend einem anderen Küchenherd stand. In dieser heimeligen Umgebung machten wir unsere kleinen Handarbeiten, die den Eltern als Weihnachtsüberraschung zugedacht waren. Zwischendurch wurden wir nach den Weihnachtsgedichten abgefragt. Darunter gehörten als ganz frühes:«Denkt Euch, ich habe das Christkind gesehen, es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee …»Oder später das Gedicht, das in jedem Lesebuch stand:«Markt und Straßen steh’n verlassen …»Dann wurden Weihnachtslieder geübt. Unser allerliebstes Lied war«Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen …»in dessen 2. Strophe es geheimnisvoller Weise heißt -
    «Zwei Engel sind hereingetreten,
kein Auge hat sie kommen seh’n,
sie geh’n zum Weihnachtsbaum und beten
und wenden wieder sich und geh’n»…
    Während Hildegard das Abendbrot«richtete», spielte ich auf der Orgel die alten Weihnachtslieder. Am liebsten habe ich das Lied«Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich …»Den Schluß machte das Paul-Gerhardt-Lied«Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesulein, mein Leben …»Soll man es bedauern, daß eine ganze Generation hinausfällt aus unserer Welt? Was setzt sie an ihre Stelle? Das Einsamkeitsgeschrei der Leute ist nicht zu ertragen, aber wenn’s einen selbst erwischt, dann ist das auch nicht auszuhalten. Dem Tod lange nicht so nahe gewesen. Auf einem Kinderspielplatz sich aufhängen.
    Kurz nach meiner Entlassung schenkte mir Pastor Mund ein
plattdeutsches Testament. Etwas verächtlich reichte er es mir über den Tisch. Die Verachtung, die man Sachsen gegenüber an den Tag legt, ist nichts gegen die Art und Weise, wie man das Plattdeutsche bedenkt. Man denke nur an die Ostfriesenwitze.
    Im Bett habe ich etwas darin gelesen. Das ist doch auch Deutschland?
    Un tau dei Tid let dei Kaiser Augustus utgewen, dei ganzen Lüd süllen up’t frisch för dei Stüer upschreben warden. Un dit wir dat irste mal wil dei Tid, dat Kyrenius dei Landshauptmann in Syrienland wir.
    Vielleicht gibt es noch eine bessere Fassung? Woher kriege ich eine holländische NT-Ausgabe?
    Sollte die Verachtung des Niederdeutschen damit zusammenhängen, daß man es auch Platt -Deutsch nennt?
     
    2000: Der Landtag in Hannover hat es abgelehnt, Plattdeutsch zur zweiten Amtssprache zu machen. Ob wir es noch erleben, daß Türkisch im Bundestag zugelassen wird?
     
    Die Firma Siemens wünscht uns alles Gute, desgleichen die CDU in Hannover.
    Eine mit ranzigem Speck versaute Stockente. Schade, und Hildegard hatte solche Arbeit damit. - Wir saßen friedlich beisammen. Schöne Tanne mit wenig Schmuck. Schrank aufgestellt mit den alten Puppenstuben. Zur Nacht sechs Runden um den Wald. Unser Haus lag da wie die Begegnung der dritten Art. Man möchte auf die Knie fallen.

Nartum
Mo 25. Dezember 1989
    Die stinkend-schlechte Ente gestern. Ich nahm nur einen winzigen Happen und begnügte mich mit Kartoffeln und Rotkohl. Sogar der Hund verschmähte das Fleisch.
    Der Munterhund lag übrigens den ganzen Abend bei mir, im
Sitzen kraulte ich sein Fell. Wenn ich mich zu ihm auf den Teppich lege, steht er auf und geht fort. Emily hat’s mehr mit Hildegard.
    Heute Mittag wieder langer Spaziergang.
    In der DDR empfangen die Bürger die Westdeutschen jetzt so ähnlich wie die Wessis die ersten Ossis. Sie wollen sich halt revanchieren. Bratwürste.
    Bernstein hat ein großes Konzert in Berlin gegeben anläßlich der Öffnung der Mauer. Er hat den Beethoven-Text, diese unselige Schiller-Ode, umgetextet in« Freiheit , schöner Götterfunken». Sehr imponierend damals (so muß man heute schon sagen) Rostropowitsch mit seinem Cello an der Mauer. Seine Unterlippe, Orang-Utan-artig vorgeschoben.
    Die Hartnäckigkeit, mit der Radio DDR immer noch von Berlin als der Hauptstadt der DDR spricht, beweist, daß noch immer in den Medien die SED-Sprachregelung herrscht, und das wieder beweist, daß sie noch fest im Sattel sitzen.
    Stürmt draußen.
    23 Uhr. - Ceauçescu und seine Frau haben sie hingerichtet.
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