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Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Titel: Alicia - Gefaehrtin der Nacht
Autoren: Kerstin Michelsen
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Laureans Miene verfinsterte sich zunehmend, er wurde verschlossen und zog sich von den Brüdern und Schwestern zurück. Mir schien, dass er sogar meine Gegenwart zu meiden begann. Wenn ich von den nächtlichen Streifzügen zurückkehrte, fand ich unser Lager oft verlassen vor. Ich wusste nicht, wo Laurean war, und wenn er dann kam, das schöne Haupt gesenkt, der Blick trübe und mutlos, dann wagte ich nicht zu fragen.
    Sobald er sich neben mir ausgestreckt hatte, schloss er sofort die Augen. Meinen zur Seite geneigten Hals schien er nicht einmal zu bemerken, als wären seine Begierden erloschen. Ich beeilte mich dann, die Augen ebenfalls zu schließen, damit ich meinem Gefährten wenigstens in der Traumwelt folgen konnte. Manchmal war er schon fort, doch wenn es mir gelang, mich an seine Fersen zu heften, dann wurde ich Zeugin von freudlosen Erlebnissen und Niederlagen. Einmal befanden wir uns im Traum eines der Mönche und es gelang mir nur mit Mühe, Laurean aus dessen Gewalt zu befreien. Es hätte nicht viel gefehlt, dass der Mann des Ordens Laurean einen hölzernen, kreuzförmigen Pflock in das Herz getrieben hätte. Natürlich wäre dies nicht in der Wirklichkeit passiert, doch die schlechten Menschenträume, in denen wir unterlagen, schwächten uns, so wie die guten, lustvollen uns stärkten.
    Es schien, als hätte ausgerechnet der stolze und unbeugsame Fürst der Salizaren seinen Kampfesmut verloren. Etwas Seltsames geschah in jener Zeit: Je schwächer Laurean wurde, umso stärker wurde ich, tatsächlich wuchs ich noch einige Zentimeter, sodass ich beinahe seine Größe erreicht hatte. Wenn ich die Gruft unterhalb der Villa durchquerte, wichen die Salizaren ehrerbietig beiseite und sogar die älteren Nobilat, die mir früher wegen meiner menschlichen Herkunft mit Verachtung begegnet waren, bogen in meiner Gegenwart einladend die Hälse.
    Im Traum war ich bereits zum Beschützer des Fürsten geworden, doch ich wusste nicht, wie ich ihm in unserer realen Welt helfen sollte. Ich verfügte über keine Kampferfahrung und hätte nicht gewusst, wie wir gegen die Mönche vorgehen sollten. Da wir bisher weder sie noch Aleshs Aufenthaltsort ausfindig machen konnten, waren wir zur Untätigkeit verdammt. Also führten wir unser Dasein fort, wie es seit Anbeginn der Zeiten gewesen war und wie es für immer sein würde, und ich sah hilflos zu, wie mein stolzer Fürst und ehemals kraftvoller Gefährte zusehends verfiel. Einmal hörte ich, wie er im Traum sagte: «Ich bin unwürdig, Androlus’ Nachfahre zu sein, denn ich habe mein Volk im Stich gelassen.» Später, als die Dunkelheit hereingebrochen war und wir uns erhoben hatten, hatte ich versucht, Laurean auf seine Worte anzusprechen, doch er hatte durch mich hindurchgesehen, als hätte er mich nicht gehört, und ich meinte, dass seine nachtschwarzen Augen feucht geschimmert hätten. Tränen? Ein Salizar, der weinte? Nein, das war vollkommen unmöglich, ich musste mich getäuscht haben.
     
    Doch eines Tages war es dann schließlich doch so weit, als ich schon nicht mehr damit rechnete, dass etwas geschehen würde, und das Warten und die Ungewissheit hatten ein Ende. Die Sonne stand hoch am Himmel und alle Salizaren ruhten in der Gruft, als eine der Wachen, die seit Desans Gefangennahme an den Fenstern der Villa postiert waren, Alarm schlug: «Sie kommen, die Mönche kommen!»
    Natürlich, sie kamen am Tag e, wenn wir Salizaren am wehrlosesten waren. Erschwerend kam hinzu, dass wir über keine Waffen verfügten, denn Salizaren zogen nur mit dem eigenen Körper in den Kampf: Unsere Finger dienten als messerscharfe Krallen, mit denen wir mehrere Hautschichten aufschlitzen konnten, und unsere Reißzähne brachten, wenn wir mit voller Wucht zubissen, jedem Menschen den sicheren Tod. Gegen das verfluchte Weihwasser der feigen Mönche jedoch waren wir wehrlos. Wenige Tropfen nur würden jeden von uns außer Gefecht setzen, das hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Einmal hatte ich versucht, Laurean auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass auch wir uns der Waffen aus der Menschenwelt bedienen könnten, wir hätten Pistolen beschaffen können, oder wenigstens Messer, doch mein Gefährte hatte mich nur verständnislos angesehen.
    Der Warnruf des Wachpostens hatte die wenigen Salizaren, die sich mit uns in den Wohnräumen der Villa aufhielten, aus den Träumen zurückgeholt. Wir versammelten uns um Laurean und erwarteten seinen Befehl. Zu meiner Erleichterung hatte der Salizarenfürst
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