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Albertas Schatten

Albertas Schatten

Titel: Albertas Schatten
Autoren: Amanda Cross
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die ganze Nacht, den ganzen Tag und das ganze Wochenende über. Die einzige Zeit, zu der man seinen Schreibtisch verlassen kann, ohne daß die Partner mißtrauisch werden, ist montags bis freitags zwischen neun und fünf. Dann ist man möglicherweise geschäftlich unterwegs oder zur Not auch beim Zahnarzt. Aber am Abend und am Wochenende hat man verdammt nochmal in seinem Büro zu sein.«
    »Hör’ nicht auf ihn«, sagte Lillian und setzte sich zu ihrer Tante.
    »Hast du jemals den Film ›Eine Dame verschwindet‹ gesehen?«
    Kate nickte. »Da gibt es einen herrlichen Dialog zwischen zwei Cricket-Fans. Der eine sagt zum anderen: ›Sie ist, weißt du.‹ Und der andere sagt: ›Ist was?‹ ›Verschwunden‹, sagte der erste. Das ist es, worüber Leo und ich mit dir reden wollen.«
    »Ich kann dir nicht ganz folgen, habe ich irgendeinen Zusammenhang nicht mitbekommen?« sagte Kate.
    »Lillian beginnt immer mittendrin«, sagte Leo. »In medias res.
    Das kommt davon, wenn man Griechisch als Hauptfach studiert hat und obendrein eine übertriebene Vorliebe für Ibsens Dramen hegt.
    Es ist alles ganz einfach und meiner Meinung nach uninteressant.
    Soll ich erzählen?« fragte er Lillian. Sie nickte.
    »Aber«, fügte sie hinzu, »ich behalte mir das Recht vor, die dramatischen Einzelheiten einzustreuen. Davon gibt es eine Menge.«
    Kate hörte ihnen mit Vergnügen zu. Sie dachte oft darüber nach, welche Ironie des Schicksals es doch war, daß ihre unmöglichen Brüder – Larry und die beiden anderen – Leo beziehungsweise Lillian produziert hatten. Ihre langweiligen älteren Geschwister hatten sich zweifellos mit der nächsten Generation gelohnt.
    »Toby hat Lillian einen Job in der Textverarbeitung besorgt, nachdem sie sich in den Computer und dieses Programm eingearbei-tet hatte«, fuhr Leo fort.
    »Nicht Onkel Larry?« fragte Kate.
    »Um Himmels Willen, nein«, sagte Lillian.
    »Lillian kam also um sechs und erhielt ihre Anweisungen von dieser Frau, die in der Kanzlei das Büro für Textverarbeitung unter sich hat. Sie war eine von diesen Frauen, ohne die überhaupt nichts läuft, weißt du. Diese Textverarbeiter sind verdammt wichtig, das kann ich dir sagen. Die Zukunft eines Kollegen kann davon abhängen, ob sie sich seine Arbeit pünktlich vornehmen. Glaube mir, man ist von ihnen abhängig, man muß diese textverarbeitenden Leute und ihren Vorgesetzten für sich gewinnen. Die Chefs setzen niemals einen Fuß in den Wang-Raum, wie wir ihn nennen; sie schicken immer jüngere Kollegen mit der Arbeit hin, die sofort benötigt wird.
    Wenn der dann keinen guten Draht zum Wang-Raum hat, kann er lange warten.« Kate nickte verständnisvoll.
    »Also gut«, fuhr Leo fort, »einige Monate, nachdem Lillian angefangen hatte, fiel ihr auf, daß diese Frau nicht mehr da war. Weißt du, Lillian arbeitet nicht ständig dort – ein paar Wochen Arbeit, ein paar Wochen Pause, nicht so wie wir besser bezahlten Chargen.
    ›Krank‹ hatte man Lillian gesagt. Aber Tatsache ist, daß diese Frau niemals wieder auftauchte. Und – «

    »Und«, sagte Lillian, »das war das absolut allerletzte, was irgend jemand irgendwo von ihr gehört hat. Sie war eine verdammt nette Frau.«
    »Sind hier alle zufrieden?« fragte Janice, die auf ihrer Gastgeber-runde war. »Kann ich irgend jemandem irgend etwas bringen?«
    »Da du so liebenswürdig bist«, sagte Kate, »könnte ich wohl einen Scotch bekommen?«
    Janice sah aus, als wollte sie die geeiste Melone erwähnen, änderte dann aber offenbar ihre Absicht. Nicht ohne Vergnügen wurde Kate bewußt, daß sie die einzige Person im Raum war, die sich keine Sorgen machen mußte, ob sie Janice oder vielleicht Bruder Larry mit ihren Wünschen beleidigte. Janice nickte und ging davon, offenbar um den Diener zu rufen. Kate bat Lillian fortzufahren.
    »Ich fragte Toby«, sagte Lillian, »und er meinte, ich solle mir keine Gedanken machen; es verschwänden immer mal Leute aus Anwaltskanzleien, besonders Textverarbeiter und sogar deren Vorgesetzte. Die Chefs würden so etwas nie merken, es sei denn, einer ihrer Klienten käme abhanden. Aber, weißt du, diese Frau war besonders nett zu mir, und ich mache mir Gedanken.«
    Kate nahm dem Diener den neuen Scotch ab und nickte Lillian ermutigend zu.
    »Was meinst du übrigens, wie sie heißt? Charlotte Lucas. Klingt das nicht wie ein Pseudonym?«
    »Nur weil Jane Austen diesen Namen gebraucht hat? Nicht unbedingt«, sagte Kate. »Pseudonyme klingen aufgesetzt,
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