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Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung

Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung

Titel: Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Autoren: James Clemens
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Ni’lahn. »Der Baum soll dein Herz hören.«
    Der Junge sah sich mit angstvoll glänzenden Augen nach ihr um. Er war sich der Bedeutung dieses Augenblicks nur allzu deutlich bewusst.
    Sing, ermunterte sie ihn stumm.
    Und er sang. Er öffnete die Lippen und ließ mit seinem Atem die süßesten Töne ausströmen. Seine Stimme war so hell, als wollte sie die Sonne überstrahlen. Die Welt verdunkelte sich an den Rändern, als wäre die Nacht zu früh hereingebrochen, doch um den Baum herum bildete sich ein Lichtfleck, der immer heller wurde.
    Der Baum antwortete, indem er sein eigenes Lied anschwellen ließ. Es war, als würde eine Blume von der Sonne berührt. Zuerst zaghaft, dann zunehmend inniger vereinigten sich die Stimmen des Jungen und seines Baumes zu einem einzigen Lied.
    In diesem Moment erkannte Ni’lahn, dass Rodricko es schaffen würde. Tränen der Erleichterung und der Trauer strömten ihr über die Wangen. Es gab kein Zurück mehr. Ni’lahn spürte Wogen elementarer Magik von dem Jungen und von dem Baum ausgehen, spürte, wie sie sich gegenseitig speisten und immer mehr verschmolzen, bis niemand mehr sagen konnte, wo der eine aufhörte und der andere anfing.
    Aus zwei Stimmen war eine geworden.
    Ni’lahn lag auf den Knien, ohne zu wissen, wie sie dahin gekommen war. Das Lied des Baumes erfüllte die Welt. Noch nie hatte sie eine solche Klangfülle gehört.
    Sie schaute auf zu den dünnen Ästen und wusste bereits, was jetzt kommen würde. Die Blätter erbebten wie unter einem starken Wind. Das Lied des Baumes und die Elementarenergie ließen die Äste bis in die Spitzen vibrieren. Und immer noch sangen Baum und Knabe in einträchtiger Harmonie. Die Stimmen wurden lauter, die Erwartung stieg.
    Die Magik staute sich in den Astspitzen. Ihr blieb nur noch ein Ausweg.
    Nun brachen, getrieben von Magik und Blut, aus jedem Zweiglein Knospen hervor: Das Baumlied verwirklichte sich in Form von Blüten, ins Leben gerufen durch die Vereinigung von Knabe und Baum.
    Rodricko stieß einen Seufzer aus, in dem sich Schmerz und Freude mischten.
    Langsam verklang das Baumlied, floss ab wie durch einen Brunnenschacht und versiegte. Der Hof lag wieder im Licht der Sommersonne.
    Rodricko drehte sich um. Sein Gesichtchen strahlte vor Glück und Stolz. »Ich habe es geschafft, Mama.« Seine Stimme war tiefer und voller geworden, er sprach fast schon wie ein Mann. Aber er war kein Mensch. Sie hörte den Klang der Magik hinter den Worten. Er war ein Nyphai. Er wandte sich seinem Baum zu. »Jetzt sind wir eins.«
    Ni’lahn jedoch schwieg und starrte den Baum nur unverwandt an. Was haben wir getan?, dachte sie. Süße Mutter, was haben wir getan?
    An den Spitzen der Äste hingen tatsächlich die Knospen einer vollzogenen Vereinigung. Wenn an diesem Abend der erste Vollmond des Sommers aufging, würden sie sich öffnen. Doch Rodrickos Blüten hatten nicht die Farbe der Nyphai, sie hingen nicht wie leuchtend violette Edelsteine im Grün. Stattdessen waren sie schwarz wie gequetschtes Gewebe, wie geronnenes Blut nachtschwarz wie die Grim Gespenster.
    Ni’lahn schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus.
    »Mama«, fragte Rodricko neben ihr, »was hast du denn?« Tief unter dem Großen Hof schlurfte Joach durch einen engen Tunnel. Einen vollen Mond hatte er gebraucht, um diesen verborgenen Gang zu finden. Ein großer Teil des geheimen Tunnelsystems unter der Ordensburg war eingestürzt, als Ragnar’k aus seinem langen Schlaf im Felsgestein erwachte. Joach erinnerte sich noch gut an diesen Tag: an seine eigene mühsame Befreiung von Greschyms Bann, an die Flucht mit Bruder Moris, an den Kampf im Herzen der Insel. Nicht einmal zwei Winter waren seitdem vergangen, doch ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Jetzt war er ein alter Mann, seiner Jugend beraubt.
    Joach stützte sich schwer auf seinen grauen, mit grünen Kristallen besetzten Stab aus versteinertem Holz. Das Ende der Krücke glühte in einem kränklich fahlen Licht, das ihm den Weg erleuchtete. Das war der letzte Rest an dunkler Magik, den der unheimliche Talisman noch enthielt.
    Er schloss die Finger fester um den Stab und spürte das schwache Rinnsal der Macht. Um dieses Stück Holz hatte er mit Greschym erbittert gerungen, doch er hatte keinen guten Tausch gemacht, als er seine Jugend dafür hergab. Jetzt war er nur noch ein runzliger, gebrechlicher Schatten seiner selbst. Joach spürte das Gewicht der Felsmassen über sich, als lasteten sie direkt auf
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