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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Autoren: Jesper Juul
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und gewalttätig war. Sie hat Eltern, Lehrer und Sozialpädagogen geschlagen, getreten und gebissen, sie hat abgelehnt, mit allen, die ihr empfohlen wurden, zu kooperieren. Zudem hatte sie in der Schule überhaupt keine Lernerfolge.
    Sie kam in die Klasse einer Lehrerin, die sich nicht sklavisch an die Methoden der Schule hielt, aber einen exzellenten Job machte und mit Jugendlichen, die sie betreute, erfolgreich war. Gleich nachdem die starke Mannschaft, die sie hierhergebracht hatte, verschwunden war, griff sie zwei Jungen an, die zweimal so groß waren wie sie, ohrfeigte die Lehrerin und zog sie an den Haaren. Irgendwie überstanden alle den ersten Tag. Am zweiten Tag ging die Hölle von vorne los. Als die Lehrerin ihr Einhalt gebieten wollte, sprang das Mädchen aus dem ersten Stock und landete in einem Schneehaufen. Die Lehrerin eilte die Treppen hinunter, draußen richtete sich das Mädchen auf, der schmale Körper voller Spannung, bereit für den nächsten Kampf. Das Mädchen schaute der Lehrerin direkt in die Augen und schrie: »Geh weg, Schlampe! Wieso hast du keine Angst vor mir? Jeder hat Angst vor mir.« Die Lehrerin antwortete: »Aber ich nicht!« Das Mädchen reagierte darauf, indem es sich in den Schnee setzte und sich die Seele aus dem Leib weinte. Die Lehrerin setzte sich neben sie und schlang den Arm um sie. So saßen sie ungefähr eine halbe Stunde, und das Mädchen erzählte eine schrecklichere Geschichte nach der anderen – über erlittene physische und verbale Gewalt durch die Eltern, sexuellen Missbrauch durch den Vater, Onkel und Cousin. Am nächsten Tag betrat das Mädchen das Klassenzimmer, warf der Lehrerin ein Notizbuch auf den Tisch und sagte: »Lesen Sie! Das will ich hier machen!«
    In ihr Notizbuch hatte sie fünfzehn Seiten ihrer Lebensgeschichte niedergeschrieben – mit schöner Handschrift und ohne Rechtschreibfehler. Die Lehrerin gratulierte ihr für ihre Arbeit, und das Mädchen sagte dann: »Ich werde Tag und Nacht schreiben, und Sie lesen, was ich geschrieben habe, und verbessern meine Fehler, in Ordnung?«
    Dies hätte der Anfang eines neuen Lebens für das Mädchen sein können, aber nicht für die Schulleiterin. Sie zitierte die Lehrerin in ihr Büro und machte ihr klar, dass ein solches Missachten der gewählten pädagogischen Methode nicht akzeptabel sei, und »ihre Schüler brauchen keine emotionale Aufmerksamkeit«. Am nächsten Tag war die Lehrerin hin- und hergerissen zwischen System und Schulleitung auf der einen Seite und Resignation auf der anderen Seite. Sie wählte Letzteres. Was aus dem Mädchen geworden ist, wissen wir nicht – und um meiner eigenen Gesundheit willen, möchte ich es mir auch nicht vorstellen.
    Unglücklicherweise hat sich diese Art von Philosophie, die aus beruflicher Ohnmacht erwächst, in den letzten Jahrzehnten sehr verbreitet. Es gibt den Glauben, dass »eine Methode alles heilt«. Das Ergebnis ist, dass Kinder, die in einem Kühlschrank aufgewachsen sind, nun in eine Tiefkühltruhe geraten und mit dem Halbsatz »außerhalb pädagogischer Reichweite« abgestempelt werden. Diese Methoden haben für Pädagogen einen gewissen Wert, weil sie ihnen das Gefühl vermitteln, »etwas Gutes« zu tun, doch zahlen die Kinder und jungen Menschen, denen geholfen werden soll und die unterstützt werden müssen, einen viel zu hohen Preis, der oftmals verheerende Folgen hat.
    Tatsache ist, dass wenn die pädagogischen Berufe die Weisheit der therapeutischen in ihre Arbeit einschließen würden – ohne deren Methoden zu übernehmen –, alle sehr viel besser dran wären. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wenn die Pädagogen bereit wären, direkt von ihren Kindern zu lernen, ihnen das den besten Weg weisen würde.
    Abschließend ist mein Rat an den Leser, der von Berufs wegen dieses Buch herangezogen hat, er möge über die obigen Sätze und Erklärungen nachdenken und alleine entscheiden, in welche Richtung er seine Begegnung und Arbeit mit aggressiven und gewalttätigen Kindern und Jugendlichen lenken will. Ist er ein Moralist – macht er die Moral zum Herzstück seiner Arbeit? Oder ist er ein Berufener und macht seine beruflichen Erkenntnisse und das Feedback seiner Kinder zum Herzstück seiner Arbeit? Jeder kann frei wählen. Entscheidet sich jemand dafür, ein Moralist zu sein, empfehle ich, diese Entscheidung aggressiven Kindern und deren Eltern zu gestehen und sie zu ermutigen, anderswo Hilfe zu suchen. Egal, wie man sich entscheidet,
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