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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Autoren: Jesper Juul
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beseitigen, indem wir immer mehr Kinder den Therapeuten überließen, aber – wie ich bereits erwähnte – diese reagieren auf ihre Klienten, Kinder oder Erwachsene sehr unterschiedlich.
    Die allgemeinen pädagogischen Grundsätze beziehen sich auf Lernprozesse – das funktioniert auch reibungslos, solange man es mit gesunden und starken Kindern zu tun hat –, insbesondere, wenn es um intellektuelles Lernen und das Aneignen von praktischen Fertigkeiten geht. Jedoch scheitern diese Grundsätze, wenn es darum geht, Geschicklichkeiten fürs Leben zu erlernen, die Kinder auch brauchen, um geistig gesund zu bleiben und eine gute psychosoziale Kompetenz zu entwickeln. Sollte es Zweifel geben, empfehle ich die jeweilige nationale Statistik zu konsultieren, die festhält, wie viele Alkoholiker, psychisch Kranke, Drogenabhängige, Essgestörte es gibt und wie viele Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren von der Schule ausgeschlossen wurden.
    Das Problem ist die Kollision zwischen den Wertmaßstäben der beiden Berufsklassen – der pädagogischen und der therapeutischen. In pädagogischen Berufen werden Werte, Methoden und Ziele von dem Beruf definiert (und manchmal stimmen dem sogar Schüler zu). Die berufliche Identität – das Hauptziel eines jeden, der für seine Mitmenschen wertvoll sein will – wird vom pädagogischen Prozess bestimmt; diesem liegt jedoch nur daran, den Studenten von A nach B zu unterstützen, zu coachen, zu inspirieren und zu begleiten.
    Der Prozess ist sinnvoll, solange wir uns mit intellektuellem Lernen und Aneignen praktischer Fertigkeiten beschäftigen. Jedoch wird er kontraproduktiv, wenn es darum geht, neue oder alternative psychosoziale Kompetenzen zu erwerben und zu integrieren oder einen persönlichen Entwicklungsprozess zu durchlaufen. Um in einem solchen Prozess als Begleiter erfolgreich zu sein, muss unser Fokus genau der unseres Studenten/Klienten sein: Wir müssen dort sein, wo der Student/Klient sich gerade befindet, und nicht dort, wo zu sein er sich wünscht oder wo ihn sein Begleiter sehen will. Die Zusammenfassung unserer Erfahrung, wenn es um persönliche Entwicklung, Psychotherapie und ähnliche Entwicklungsprozesse geht, beläuft sich auf drei wesentliche Punkte:
Niemand kann einen anderen Menschen dazu bewegen, sich zu entwickeln.
Niemand kann sich entwickeln, ohne sich zunächst so akzeptieren, wie er im Moment ist.
Um erfolgreich zu sein, muss sich zwischen dem Helfer/Begleiter und jenem Menschen, dem geholfen oder der begleitet wird, eine solide Beziehung entwickeln.

    Das ist das, was wir erwachsenen Klienten anbieten. Deren harte Arbeit gepaart mit unserer Anerkennung – der Anerkennung dessen, was sie sind und wie sie der geworden sind, der sie sind – ermöglicht qualitative Veränderungen.
    Im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen ignorieren Pädagogen diese Grundsätze, obwohl ihre Ergebnisse von jeher miserabel sind. Ich bin mir sicher, dass wir diesen Zustand nicht dem schlechten Willen der Pädagogen zuschreiben können. Doch sind leider für diesen Berufsstand Kinder und junge Menschen immer nur »Schüler«, und/oder er selbst ist immer überlegen. Dies gilt nicht nur für Berufe mit einer pädagogischen Ausbildung, sondern auch für Psychologen und Therapeuten, die im öffentlichen Dienst tätig sind. Ihre Loyalität gilt dem System, das sie bezahlt, und nicht den Kindern und Jugendlichen, die sie brauchen. Paradoxerweise macht genau dieses Phänomen ihre Leistungen noch kostspieliger für die Arbeitgeber, da ihre Erfolgsrate so gering ist. Das ist verantwortungslos und extrem unglücklich: Sie bringen ihre Klienten und sich selbst um den Erfolg. Je länger ich diesen Berufsstand beobachte, berate und unterrichte, desto mehr muss ich feststellen, dass sie in die alten Fußstapfen getreten sind. Dort gilt: »Wenn du einen Hammer hast, sieht alles wie ein Nagel aus.«

    Ein Beispiel:
    Eine Sonderschule, die Kinder und Jugendliche mit »speziellen Bedürfnissen« aufnimmt – in diesem Fall meist Teenager mit Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung –, hat beschlossen, eine pädagogische Methode, die auf Belohnung basiert, einzuführen. Die Schüler werden für »gutes« Verhalten belohnt, das heißt für Konzentration, Gehorsam und nichtaggressives Verhalten. Eines Tages wurde ein dreizehnjähriges Mädchen vom Sozialdienst und der Polizei in diese Schule gebracht. Der Grund war der, dass das Mädchen über Monate extrem aggressiv
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