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Äon

Äon

Titel: Äon
Autoren: Greg Bear
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vorstellen? Erst vor einer Woche hatte sie sich verabschiedet. Noch immer bekam sie ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie an ihre letzten Minuten mit Paul dachte. Immerhin würde sie seine Briefe erhalten; dafür garantierte die Militärpost-Adresse. Aber was könnte sie ihm in ihren Antworten sagen? Nichts vermutlich. Und ihr Aufenthalt im Weltraum wurde auf mindestens zwei Monate veranschlagt.
    Sie lauschte dem Brummen und Surren der OTV-Maschinen. Da hörte sie Treibstoffpumpen, geheimnisvolle Laute, Gluckergeräusche wie von großen Wasserblasen, die hinter der Passagierkabine zerplatzten, und das helle Klingeln der Lagekontrolldüsen, die das Fahrzeug von der Fähre wegbewegten.
    Sie begannen zu rotieren; ihre Achse lag so ziemlich in der Mitte der Kokonladung, die festgemacht war, wo ansonsten ein zusätzlicher sechseckiger Treibstofftank untergebracht war. Das OTV setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, als der erste Hauptmotor zündete. Die Blondine, die noch nicht saß, landete mit den Füßen am hinteren Schott, fing den Aufprall mit federnden Knien ab und beendete ihre Eingabe am Prozessor.
    Dann legten alle die Gurte an.
    Die Zündung des zweiten Motors erfolgte nach fünfzehn Minuten. Patricia schloß die Augen, schmiegte sich in den Sitz und beschäftigte sich wieder mit einem Problem, das sie vor mehr als zwei Wochen auf die Seite gelegt hatte. Im Anfangsstadium ihrer Arbeit benötigte sie nie Papier. Nun, es marschierte Fraktur vor ihr auf, abgetrennt von eigenen Symbolen, die sie mit zehn erfunden hatte. Obwohl da keine Musik war – normalerweise hörte sie bei der Arbeit Vivaldi oder Mozart – tauchte sie ein in ein Meer der Abstraktion. Sie griff mit der Hand zum Stapel von Musikmünzen und dem Stereozusatz in ihrer Handgepäcktasche.
    Einige Minuten später schlug sie die Augen auf. Alles saß auf den Plätzen und behielt die Armaturen im Auge. Patricia versuchte zu schlafen. Bevor sie eindöste, war sie kurz ihrer großen Frage nachgegangen:
    Warum war sie, ausgerechnet sie ausgesucht worden von einer Liste von Mathematikern, die meterlang gewesen sein mußte? Daß sie einen Wettbewerb gewonnen hatte, das schien keine hinreichende Begründung zu sein; es gab andere Mathematiker mit viel mehr Erfahrung und Format…
    Hoffman hatte an sich keine Erklärung geliefert. Sie hatte lediglich gesagt: »Sie gehen auf den Stein. Alles, was Sie wissen müssen, finden Sie dort oben. Es unterliegt der Geheimhaltung, also darf ich Ihnen keine Unterlagen aushändigen, solange Sie hier auf der Erde sind. Sie haben verdammt viel zu studieren. Aber ich wette, für einen Denker wie Sie wird das ein Höllenspaß sein.«
    Soweit Patricia wußte, gab es für ihr Können keinerlei praktische Anwendung, und das war ihr lieber so.
    Sie zweifelte nicht an ihren Talenten. Aber daß ausgerechnet sie herangezogen wurde, das machte sie nervös.
    Vor sechs Jahren hatte ein Matheprofessor der Stanford University zu ihr gesagt, daß ein Gott oder Außerirdischer sein müsse, wer ihre Arbeit voll zu schätzen wisse.
    Während Patricia im Dunkeln schläfrig aus dem lauten OTV entschwand und ihr Magen ständig nach oben drückte, dachte sie an den Stein. Die betroffenen Regierungen mißbilligten Spekulationen nicht, stellten aber keinen Stoff zur Verfügung, um das Feuer zu schüren. Die Russen, die erst im letzten Jahr auf den Stein vorgelassen worden waren, ließen vage anklingen, was ihre Forscher gesehen hatten.
    Hobbyastronomen – und ein paar zivile Himmelskundler, die nicht von Regierungsagenten aufgesucht worden waren – hatten auf die drei gleichmäßigen Latitudinalbänder und die eigenartigen Dellen an den Polen hingewiesen, als wäre der Stein auf der Drehbank entstanden.
    Die Folge davon war, daß jeder wußte, der Stein war ein heißes Thema, vielleicht das Thema aller Zeiten.
    Und so war es nicht verwunderlich, daß Paul, der zwei und zwei zusammenzählte, zu Patricia gesagt hatte, daß sie seiner Meinung nach auf den Stein gehe. »Ein Kopf, ungewöhnlich wie du – da kann’s nur der Stein sein«, hatte er gefolgert.
    Götter oder Außerirdische. Trotzdem fand sie Schlaf.
    Als sie aufwachte, sah sie kurz den Stein, während das OTV zum Landemanöver beidrehte. Er hatte viel Ähnlichkeit mit den unzähligen Bildern, die sie in Zeitungen und Magazinen gesehen hatte: bohnenförmig, in der Mitte ungefähr ein Drittel so dick wie lang, übersät mit Kratern zwischen den sauber ausgehöhlten, künstlichen Rillen. Der
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