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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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gegangen.«
    Adrienne ging zum Kamin, dessen hohe Bronzeleuchter sie stirnrunzelnd musterte.
    »Sag mal«, begann sie nach einem Augenblick, »weißt du eigentlich, wann die neuen Mieter der Villa Louise kommen?«
    »Die neuen Mieter der Villa Louise? Juni oder Anfang Juli, nehme ich an. Sie haben sich nicht schriftlich bei mir angemeldet. Auf jeden Fall werden sie gut daran tun, ihre Linden auszulichten und die Fensterläden neu zu streichen.«
    Ein kurzes Schweigen trat ein, dann fuhr die Stimme fort:
    »Außerdem sind es dieses Jahr keine Mieter, es ist eine Mieterin. Eine Madame Legras, und anscheinend allein.«
    Adrienne wandte den Kopf zum Fenster.
    »Ja«, sagte sie, »ich weiß. Papa hat es oft genug wiederholt.«
    Sie nahm eine mit Geranien gefüllte Vase und ging zur Tür.
    »Wo gehst du hin ?« fragte die Stimme.
    »Das Blumenwasser wechseln.«
    Die Tür öffnete und schloß sich wieder. Eine tiefe Stille herrschte im Salon, jene Stille, die die Hitze der Sommertage genauso selbstverständlich zu begleiten scheint wie das Licht. Auf dem mit übertriebener Sorgfalt gebohnerten Parkett zog ein Sonnenstrahl einen metallenen Strich zwischen zwei Teppichen aus karmesinrotem Rips. Fliegen schwirrten geräuschlos vor dem Fenster. Man hörte Wasser in eine Vase fließen. Nach einer Minute öffnete die Tür sich wieder.
    »Erinnerst du dich nicht mehr, wann sie letztes Jahr gekommen sind?« fragte Adrienne, als sie ins Zimmer trat.
    »Wer? Immer noch die Mieter von gegenüber?«
    »Ja, sicher.«
    Die Antwort folgte erst nach einem Augenblick.
    »Ende Mai.«
    Adrienne hielt die Vase in ihrer Schürze, um die Tropfen aufzufangen. Sie stellte sie in die Mitte eines runden Tischchens und trat ein wenig näher an das Kanapee.
    »Wie fühlst du dich heute?« fragte sie und blickte zum Fenster hinaus.
    »Gut natürlich, Adrienne«, sagte die Stimme in etwas überraschtem Ton. »Wie immer.«
    »Mhm!« machte Adrienne.
    Ihr Gesicht nahm einen nachdenklichen und zugleich verlegenen Ausdruck an. Sie stemmte die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück, die Augen auf die Villa Louise gerichtet.
    »Gegenüber hättest du mehr Sonne«, sagte sie kurz.
    »Wir haben hier den ganzen Vormittag Sonne.«
    »Drüben hättest du sie morgens und nachmittags…«
    Sie schwieg einen Augenblick, dann erklärte sie mit leichter Ungeduld:
    »… das Haus geht nämlich nach Westen und Süden. Deshalb hätte diese Madame Legras jetzt in der Rue du Président-Carnot Sonne, wenn sie schon hier wäre.«
    Diese Worte hatte sie mit einer Mischung aus Traurigkeit und Empörung gesagt, die sie nur mit Mühe bezwang, und obwohl niemand sie sehen konnte, machte sie eine Handbewegung hin zu der Straße, von der sie sprach.
    Einige Sekunden verstrichen in völliger Stille.
    »Ja, das ist wahr«, sagte schließlich die Stimme. »Sie nützt es nicht aus… Würdest du mir beim Aufstehen behilflich sein, Adrienne? Wenn du das Kanapee zu dir ziehen könntest…«
    Ohne zu antworten, legte Adrienne eine Hand auf die Rückenlehne des Kanapees und bewegte es ziemlich mühelos in ihre Richtung, denn sie war kräftig. Da erhob sich die Person, die vor dem Fenster lag, und machte, sich auf die Möbel stützend, ein paar Schritte durchs Zimmer. Es war eine Frau unbestimmten Alters, die durch Krankheit frühzeitig verbraucht wirkte, und schwerlich hätte man ihr fünfunddreißig Jahre gegeben. Ihr großer Körper, der so gebeugt war wie der einer Greisin, schien nicht imstande, aus eigener Kraft zu stehen, und sie ging, indem sie Adrienne die rechte Hand auf eine Art entgegenstreckte, die an eine Blinde denken ließ. Die Furcht vor einem Sturz verstärkte ihren von Natur aus zaghaften Gesichtsausdruck, und die Brauen, die sie vor Ängstlichkeit und Leiden ständig zusammenzog, hatten am Ende parallel verlaufende Falten in die Stirn gegraben. Sie hatte eine große Nase, die ihren Zügen ein trügerisches Aussehen von Kühnheit verlieh, und abgezehrte, von kleinen Furchen durchzogene Wangen.
    Adrienne wich ein wenig zurück, um sie vorbeizulassen, doch sie setzte sich in einen Lehnsessel und seufzte, während sie mit halb geöffneten Lippen die Augen umherwandern ließ. Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachtete die junge Frau sie eine Weile wortlos mit jenem Blick, der niemals milde zu werden schien.
    »Bist du müde, Germaine?« fragte sie schließlich unwirsch.
    Die Kranke hob den Kopf.
    »Überhaupt nicht«, sagte sie. »Findest du, daß ich schlecht
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