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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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Gestaltung, darin liegt das paradoxe Rätsel des frühen Julien Green.
    Adrienne weiß nichts von sich selber, und sie weiß nichts von den anderen. Diese anderen bleiben ihr ein vollständiges Rätsel: Sie versteht nicht den Zorn ihres Vaters, und sie versteht nicht die Tiefe der Mißgunst ihrer Schwester, die eifersüchtig ist auf ihre Jugend. Sie freundet sich an mit Madame Legras, einer zwielichtigen Person, die sich in der letzten Szene als die Verkörperung des verbrecherischen, des teuflischen Prinzips schlechthin entpuppt. Sie erhofft sich Hilfe ausgerechnet von Marie Maurecourt, der Schwester des Doktors, die nichts anderes will, als die Verliebte von ihrem Bruder fernzuhalten, den sie als ihren Besitz betrachtet. Diese Liebe zu Maurecourt, also das, was ihr die Befreiung bringen soll, wird zum Höhepunkt ihrer Verblendung. Maurecourt, ein ältlicher, kränkelnder Mann, dem zugleich ein anrüchiges Geheimnis anhaftet, das schon auf Greens späteren Roman Der Übeltäter verweist, er wird für sie zum Gegenstand eines ausschließlichen, besitzergreifenden amour fou, der keinen Einwand zur Kenntnis nehmen will. Nichts kann Adrienne abbringen von diesem Mann, den sie nur ein einziges Mal gesehen hat, ihre Liebe ist unwiderruflich. Weiß sie überhaupt, was sie von dieser Liebe will, träumt sie von einer erotischen Liaison, von einer dauerhaften Bindung, von Ehe und Kindern? Weiß sie am Ende überhaupt, was Erwachsene unter diesem Wort »Liebe« verstehen?
    Von dieser Frage her fällt ein neues Licht auf das Rätsel Adrienne Mesurat, auf den frühen Julien Green und vielleicht auf sein ganzes Werk. Adriennes Liebe ist nicht die Leidenschaft einer jungen Frau für einen Mann, sie ähnelt viel mehr der Verliebtheit eines Kindes für einen Erwachsenen, seinem ebenso naiven wie verzweifelten Verlangen, das sich selber nicht begreifen kann. Adrienne ist kein Kind, und zugleich ist sie es doch, ein Kind in einer furchtbaren, unverständlichen Erwachsenenwelt. Und hier klingt ein Motiv an, das sich durch Greens ganzes Leben zieht und sein Schreiben und Denken vielleicht stärker geprägt hat als jedes andere. Adrienne ist eine Verwandte vieler anderer Figuren Greens, von Emily Fletcher in Mont-Cinère, der verlorenen Waise Elisabeth in Mitternacht bis zu Joseph Day in Moira und der Elizabeth in der Südstaatentrilogie. Der verruchte Ort von 1977 ist immer als eine Wiederaufnahme des Frühwerks verstanden worden, und hier nun wurde in der kleinen Louise das Bild des verlorenen Kindes unter den Erwachsenen fast über deutlich enthüllt. »Altern ist Sünde«, hat Green einmal gesagt, und wahrscheinlich hat man ihn nicht wörtlich genug genommen. Der theologische Gegensatz von Unschuld und Sünde, der für den Katholiken Green in der Mitte seines Denkens und Glaubens stand, hatte sein Spiegelbild immer auch in dem eines verlorenen Paradieses der Kindheit und eines sündigen, unreinen Lebens des Erwachsenen. Der Wunsch nach Reinheit, nach Erlösung, ist auch der verzweifelte Wunsch nach der Wiederkehr einer verlorenen Zeit. Dies klingt an in jenen Augenblicken, wo Adrienne in der Erfahrung von Stille und Dunkelheit, im überwältigenden Anblick des Sternenhimmels, im Klang eines nächtlichen Vogelrufs etwas ahnt von der anderen Seite, von Unendlichkeit und Transzendenz. Solche kurzen Szenen, die die Immanenz der Verzweiflung durchbrechen, sind bei Green kaum wahrgenommen worden, doch wenn man erkennt, wie oft sie, verwandelt, in allen seinen Romanen wiederkehren, wird man in ihnen die Momente sehen müssen, in denen sich der Roman auf das Andere hin öffnet.
    Auch die Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit der Kindheit ist nicht psychologisch zu verstehen. Julien Green wußte gut genug, daß das wirkliche Kind nicht jenes vielbeschworene unschuldige Wesen ist, und die Kindlichkeit zahlreicher seiner Figuren ist keine reale Kindlichkeit, sondern die Weigerung oder die Unfähigkeit, in das sündige Leben einzutreten. Die Angst und Einsamkeit, die Greens Figuren umtreibt, ist die kreatürliche Angst, am Leben zu sein, und es ist zugleich die Kinderangst, die sich die bodenlose Frage nach der eigenen Existenz stellt. Die auf dem Treppenabsatz kauernde Adrienne, in ihrer vollkommenen, unaufhebbaren nächtlichen Einsamkeit neben dem ermordeten Vater – das ist kein Bild bloßer Schuldgefühle über ein begangenes Verbrechen, das ist die Einsamkeit eines auf ewig verlorenen Kindes, das nichts begreift von der Entsetzlichkeit
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