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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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nur die Straße tauchte aus der Dunkelheit.
     
    Nach einigen Minuten wurde sie langsamer und rang nach Atem. Tiefe Stille herrschte, und die kleine Stadt war fern, doch Adrienne blieb nicht stehen. Sie ging mit unregelmäßigem Schritt, bald schnell, bald so langsam und niedergedrückt, daß es aussah, als müßte die Müdigkeit das junge Mädchen und seine Angst endlich überwältigen. Wie schon kurz zuvor redete sie auch jetzt halblaut, aber ihre Zunge wurde immer schwerer, und sie brachte kein verständliches Wort hervor.
    Manchmal wuchs ihre Unruhe ganz plötzlich. Aber sie nahm all ihre Kraft zusammen und lief ein paar Sekunden die Straße entlang, wie vorwärtsgetrieben. Dann verirrte sich ihr Geist wieder in andere Bahnen, und sie schleppte sich mühsam weiter.
    Wenig später hielten Spaziergänger sie an, als sie zu den ersten Häusern des Nachbardorfes kam. Sie wußte weder ihren Namen noch ihre Adresse. Sie erinnerte sich an nichts.

 
Nachwort
     
    »Adrienne, c'est moi.«
    Julien Green und sein frühes Meisterwerk Adrienne Mesurat
    Eine junge Frau, bewegungslos, Äug in Auge mit ihren Ahnen. Zwölf Porträts hängen an der Wand dieses eher bescheidenen Salons in der französischen Provinz, zwölf Gesichter, die ungeduldig darauf zu warten scheinen, die Tragödie endlich beginnen zu sehen. Und glaubt man diesem Anfangsbild, so ist sie bereits entschieden, bevor das erste Wort gesprochen wird. Denn ehe noch der Autor sich seiner Hauptperson endgültig zuwendet, um sie dann bis zum letzten Satz seines Romans, außer für eine einzige, kurze Szene, nicht mehr loszulassen, ehe er sich daran macht, ihr Schritt um Schritt auf dem Weg von diesem Familientribunal in den Wahnsinn zu folgen, läßt er wie in einem Ritual jene Gestalten erscheinen, die, wenn auch unsichtbar, die Fäden des Geschehens geknüpft haben und in den Händen behalten werden. In den Charakterzügen der Vorfahren scheint das Schicksal der Nachkommen bereits vorgezeichnet, Aggressivität und Selbstzufriedenheit, Härte, Entschlossenheit und Geiz.
    Achtzehn Jahre alt ist Adrienne Mesurat in dem Augenblick, als sie vor das Gericht der Vorwelt tritt, und in keinem personifiziert es sich wie in dem »von sorgfältiger Hand gemalten Porträt der alten Antoinette Mesurat«. Sie thront dort wie die zeitlose Vision einer gealterten Adrienne, einer Adrienne, wie sie hätte werden können, wenn in ihr die Mesuratschen Eigenschaften sich nicht bis zu einem Punkt verdichtet hätten, wo jede Verbindung nach außen und damit das Weiterleben selber unmöglich geworden sind. »Sie mochte an die fünfzig Jahre alt sein, aber sie gehörte zu jenen Frauen, für die das Alter kaum von Bedeutung ist und die früh – so als habe die mit ihrem Werk zufriedene Natur beschlossen, nichts mehr daran zu verändern – das Gesicht bekommen, das sie ein Leben lang behalten. Die leicht ergrauten Haare waren straff nach hinten gekämmt und ließen die Rundung eines kleinen Schädels erkennen, in dem für Gedanken gewiß nicht viel Platz war, zumal die einmal hineingeratenen nur schwerlich neuen wichen, und beim Anblick der breiten, von keiner Falte durchzogenen Stirn, drängte sich einem sogleich das Bild einer Mauer auf.«
    Das Tableau, das der Autor an den Anfang seines Romans stellt, gönnt seinen Figuren keinen Spielraum zwischen diesen Mauern. Ein Haus, in dem die Ahnen hausen, eine junge Frau, die keinen Fluchtweg findet – ja, die ihn nicht einmal wirklich sucht. Alle Wege, die nach draußen zu weisen scheinen, führen unweigerlich in das Innere zurück, und jeder Traum von Befreiung bleibt gebannt in Bilder, die der Angst einer unfreien, einer gefangenen Seele entspringen.
    Julien Green, der am 6. September 1900 in Paris geboren wurde und dort am 13. August 1998 gestorben ist, hat sich mit seinen ersten drei Romanen sofort in die Literaturgeschichte des Jahrhunderts eingeschrieben: Mont-Cinère (1926), Adrienne Mesurat (1927) und Leviathan (1929). Auch im Rückblick ist die Meisterschaft des jungen Schriftstellers überwältigend, die hohe Schönheit und Sparsamkeit seiner Sprache, die gedankliche und künstlerische Einheit dreier Werke eines noch nicht Dreißigjährigen. Hier gibt es kein Tasten, kein Versuchen oder Suchen, keine Rhetorik oder Redundanz. Mont-Cinère hatte Verblüffung ausgelöst bei der französischen Kritik; Adrienne Mesurat war bereits ein europäisches Ereignis, und der Rang des Autors duldete von diesem Buch an keinen Zweifel mehr.
    Julien
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