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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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Greens drei frühe Romane sind neben Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit das einzige Werk der französischen Erzählliteratur, das beanspruchen kann, zu den unanfechtbaren Hauptwerken der ersten Jahrhunderthälfte zu zählen.
    Was den ungeheuren Eindruck beim Erscheinen dieser Bücher bewirkte, war vor allem die Verbindung von zwei gegensätzlichen Elementen: Klassische Sprache ohne jede Versuchung durch den zeitgenössischen Avantgardismus einerseits, auf der anderen Seite jedoch eine Führung von Szenen und Figuren, die, unter der Außenseite eines konventionellen Romans, einem ganz ungewohnten Mechanismus zu folgen schien. Greens Romane waren ein Rätsel, und wie bei jedem Rätsel wuchs die Faszination mit der Unauflösbarkeit. Bereits die zeitgenössischen Rezensionen zeigen, wie hilflos die literarische Welt mit ihrem kritischen Instrumentarium dem Phänomen gegenüberstand. Einmal wurde Adrienne Mesurat als psychologischer Roman verstanden, obwohl doch weder Psychologie noch Psychoanalyse imstande wären, eine halbwegs überzeugende Erklärung für Adriennes Verhalten zu geben; ein anderes Mal las man ihn als Sittenbild aus der französischen Provinz, als sozialen Roman, obwohl sich doch bei näherem Hinsehen der realistische Gehalt dieser düsteren Kleinstadtvision nahezu verflüchtigt.
    Am ehesten überzeugte noch die Deutung als metaphysischer Roman, denn die Absolutheit, mit der hier das Leiden als Zentrum der condition humaine gesehen wird, ist nicht anders als theologisch zu verstehen – und doch ist es fast unmöglich, hinter der lakonischen Geradheit der erzählten Geschichte zu dem vorzudringen, was diesen metaphysischen Gehalt ausmachen könnte. Obwohl vom Katholizismus des Autors in Adrienne Mesurat und den anderen Romanen seiner frühen Zeit nirgendwo etwas zu spüren ist, setzte sich mit dem Wissen darum eine Lesart durch, die auf Greens Freund Jacques Maritain, den bedeutenden thomistischen Philosophen, zurückgeht: Julien Greens Werk sei »das Bild der Welt ohne die Gnade«. Eine einleuchtende Formel, die alles zu erklären verspricht, scheint doch nichts dem Greenschen Kosmos und seiner Ausweglosigkeit so zu fehlen wie die göttliche Gnade oder auch nur die Hoffnung auf sie. Doch bereits auf den zweiten Blick verliert der Satz an Überzeugungskraft. Wäre er nicht ganz genauso, wie Green selber schon anmerkte, auf zahlreiche andere Werke, etwa auf Bei Ami, Nana oder Les Liaisons dangereuses, anzuwenden? Wo könnte er aber, über das Offensichtliche hinaus, tatsächlich die Eigenart des Greenschen Werkes erklären? Was wird in Adrienne Mesurat deutlicher, liest man das Werk unter dem Vorzeichen der Maritainschen Formel? Das Rätsel ist ungelöst. Es bleibt also nichts, als zurückzukehren zum Werk, zu seinen Orten und Figuren.
    Adrienne Mesurat wird bestimmt durch zwei, drei Formprinzipien, die so einfach, offensichtlich und radikal sind, daß sie dem Leser schon fast nicht mehr auffallen. Das erste Prinzip ist die ausschließliche Konzentration auf die Hauptfigur, die dem Roman mit allem Recht auch seinen Namen gibt. Adrienne gilt das erste und das letzte Wort. Im ganzen Verlauf des Buches gibt es nur eine einzige, winzige Szene, in der Adrienne nicht anwesend ist, nämlich das kurze Gespräch zwischen Madame Legras und Doktor Maurecourt kurz vor dem Ende, in dem es jedoch ausschließlich um Adrienne geht.
    Alle anderen Kapitel folgen Adrienne und ihrer Geschichte: Das Familienleben mit dem egoistischen, nur auf seine Ruhe und Bequemlichkeit bedachten Vater und der älteren Schwester Germaine, die sich krank, mißgünstig und eifersüchtig als »alte Jungfer« in ihrem stickigen Zimmer verzehrt; der Ausbruchsversuch des jungen Mädchens, das sich in einen Unbekannten, den Doktor Maurecourt, verliebt und sich in diese Liebe wie in einen autistischen Wahnsinn steigert; die Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter und der Höhepunkt des Mordes, als Adrienne den hemmungslos Wütenden die Treppe hinabstürzt. Und ebenso der Weg von diesem dramatischen Gipfel herab, vom Mord in die Verstörung, die zunehmende Vereinsamung, die Versuchung durch die diabolische Madame Legras, bis hin zum Ende irgendwo auf der Landstraße: »Sie wußte weder ihren Namen noch ihre Adresse. Sie erinnerte sich an nichts.«
    Diese Konzentration auf die Hauptfigur treibt Green aber noch weit über das bloße Prinzip von deren Allgegenwart hinaus. Die gesamte Handlung wird mit Adriennes Augen gesehen,
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