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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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hin und her schaukeln. Sie blickte das junge Mädchen an, das sich auf eine Sessellehne stützte.
    »Wissen Sie, was Sie gerade tun?« fuhr sie fort.
    Sie wartete auf eine Antwort, die aber nicht kam. In der Stille war ihr schwerer, heiserer Atem zu hören, beinahe ein Pfeifen.
    »Sie bringen meinen Bruder um«, sagte sie schließlich mit Nachdruck.
    Adrienne schrak zusammen und öffnete den Mund.
    »Ich?« fragte sie.
    »Ja, Sie!« beharrte Marie Maurecourt und kam näher. »Begreifen Sie nicht, wieviel Unheil Sie anrichten? Mein Bruder ist ein überaus empfindlicher Mensch.«
    Tränen des Zorns und der Erregung drohten ihre Stimme zu ersticken, doch sie bekam sich wieder in die Gewalt und sprach hastig weiter, als befürchte sie, in Schluchzen auszubrechen, bevor sie mit dem, was sie sagen wollte, zu Ende war:
    »Ein überaus empfindlicher Mensch. Sein Leben war nichts als eine lange Reihe von Krankheiten. Er ist schwach, sein Herz ist schwach, eine Kleinigkeit genügt, um einen Anfall, einen Stillstand auszulösen. Ich habe mich immer um ihn gekümmert. Ich bin zehn Jahre älter als er, und dennoch sieht er wie der Altere von uns beiden aus. Wenn ihm etwas zustoßen sollte…«
    Mit einer Leidenschaft, die sie nicht zu unterdrücken vermochte, brach es aus ihr hervor:
    »… dann sterbe ich lieber mit ihm. Ich habe nur ihn auf der Welt. Ich kann ihn nicht daran hindern, sich abzuarbeiten, Leute zu behandeln, die nicht einmal zahlen, aber ich werde nicht zulassen, daß Frauen wie Sie ihn mit ihren Geschichten belästigen.«
    Sie betrachtete Adrienne, die sich nicht rührte, und schwieg einen Augenblick.
    »Frauen wie Sie«, wiederholte sie, zornbebend, denn ihre Wut gewann die Oberhand über die Rührung von kurz zuvor. »Wissen Sie, was ich mit Ihren Briefen gemacht habe? Ich habe sie auf die Straße geworfen, und das werde ich jedesmal tun, wenn Sie ihm zu schreiben versuchen. Hoffen Sie nicht, ihn je wiederzusehen. Heute morgen ist er gekommen, weil Sie ihn mit einer vorgetäuschten Krankheit hergelockt haben. Aber jetzt sind wir gewarnt. Sie können sich einen anderen Arzt suchen. Bitten Sie doch Ihre Freundin Leontine Legras um Adressen. Die hat bestimmt welche.«
    Sie rang nach Atem und fuhr fort:
    »Nein, wenn ich nur daran denke… Als er heute morgen zurückkam, meinte ich, gleich sei es mit ihm zu Ende. Fünf Minuten lang brachte er kein einziges Wort heraus. Nie zuvor habe ich solche Angst ausgestanden, das können Sie mir glauben. Er hat sich in seinem Arbeitszimmer auf das Sofa gelegt …«
    Die Erinnerung, die sie heraufbeschwor, schien unerträglich zu sein, und sie schlug einen härteren Ton an:
    »Jetzt kann ich es Ihnen sagen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, dann hätte ich Sie dafür verantwortlich gemacht. Es muß Gesetze geben für Verbrecherinnen Ihres Schlages. Hören Sie, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, am besten, Sie gehen fort von hier.«
    Sie unterbrach sich, als sie Adriennes Gesichtsausdruck sah.
    »Sie können mir glauben«, fuhr sie weniger hart fort, »aus mir spricht nur die Vernunft. Da Sie hier doch nicht glücklich sind, ziehen Sie lieber anderswohin. Sie haben die Mittel dazu, sie haben keine Familie mehr, die sie in La Tour-l’Evêque hält.«
    Adrienne setzte sich; Marie Maurecourt nahm neben ihr Platz und fuhr fort:
    »Und außerdem, das wissen Sie genausogut wie ich, erfreuen Sie sich hier keines ganz makellosen Rufes. Sei es auch nur wegen Ihres vertraulichen Verhältnisses mit Leontine Legras, nicht wahr? Ich bin mir sicher, was Ihnen im Grunde genommen fehlt, ist die Ehe. Aber hoffen Sie nicht, in La Tour-l'Evêque eine Partie zu finden. Hier ist man viel zu aufgebracht gegen Sie. Ich will gar nicht glauben, was alles geredet wird, ich weiß, wieviel auf den Klatsch von Mademoiselle Grand zu geben ist, aber was wollen Sie, in einem Ort wie diesem hier hat die Lüge ebensoviel Macht wie die Wahrheit. Also gehen Sie, gehen Sie. Ganz gleich, wohin. Sie waren doch eine Weile in Dreux, kehren Sie dorthin zurück. Die Stadt ist größer als La Tour-l’Evèque.«
    In ihrem Wunsch zu überzeugen, senkte sie die Stimme, so wie Madame Legras es immer getan hatte. Der Gedanke, Adrienne loszuwerden, indem sie ihr einredete, das Städtchen zu verlassen, war ihr ganz plötzlich gekommen und schien ihr so ausgezeichnet und so glücklich, daß sie darüber ihren Zorn fast vergaß.
    »Sie werden sich dort bestimmt wohler fühlen als hier. Ich habe mir sagen lassen, daß Dreux
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