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Damenschneider

Damenschneider

Titel: Damenschneider
Autoren: Rupert Schöttle
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Prolog
     
    Die Stunde der Entscheidung war gekommen.
    Seufzend setzte sich Erwin Necker an seinen Wohnzimmertisch, nahm einen kleinen karierten Spiralblock zur Hand und schrieb mit einem silbernen Bleistift, den er aus seiner rechten Hosentasche geangelt hatte, sorgsam die Ziffern eins bis sechs untereinander, um sogleich in tiefes Nachdenken zu verfallen.
    Mit gerunzelter Stirn saß er nun da und drehte den Stift im Mundwinkel.
    Plötzlich hielt er inne, nahm das Schreibwerkzeug aus dem Mund und notierte entschlossen hinter den sechsten Punkt »Schreibtisch aufräumen«.
    Während er mit schief gelegtem Kopf die in feiner Handschrift verfassten Worte begutachtete, schob er seine Hand ein wenig höher, wo sie hinter der »Fünf« zu liegen kam. Dieses Mal zögerte er nicht und vermerkte dahinter mit gespitzten Lippen: »Eltern besuchen.«
    Die Formulierung des vierten Punktes bedurfte anscheinend ebenfalls keiner allzu großen Geistesarbeit, schrieb er doch sogleich dahinter: »Nichts tun.«
    Was er hinter die »Drei« schreiben sollte, schien ihm noch nicht ganz klar zu sein, denn er hielt einige Augenblicke inne, bevor er dort die nächsten zwei Worte registrierte: »Oper-Salome.«
    Auch bei dem zweiten Punkt zögerte er. Nachdem er einige Zeit seinen Kopf hin und her gewiegt hatte, vermerkte er dort endlich »Beisl-Tour.«
    Die Protokollierung des ersten Punktes schien ihm offensichtlich die größte Pein zu bereiten. Zuerst dachte er lange nach, dann stand er auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab, bis er sich schließlich entschlossen hinsetzte und mit zittriger Hand und dementsprechend krakelig niederschrieb: »Vera aufsuchen.«
    Nun war die Liste komplett, und die Gestaltung seines freien Abends würde sich in wenigen Augenblicken entscheiden.
     
    Nachdem er aus seiner anderen Hosentasche einen ebenfalls silbernen Würfel gezogen hatte, und ihn gedankenverloren in seinen zu einer Kugel geformten Händen schüttelte, ging er nochmals bedächtig die einzelnen Punkte durch.
    Unter dem sechsten Absatz hatte er, gleichsam als Kontrapunkt zur höchsten Augenzahl, wie stets die Handlungsalternative notiert, die ihm am wenigsten zusagte.
    Dieser Punkt, den er so fürchtete, gebot ihm nämlich, seinen Schreibtisch aufzuräumen, auf dem sich Papiere und Notizen der letzten Monate in beständig wachsender Unordnung gestapelt hatten, und diese Aufgabe, so notwendig sie ihn auch anmutete, erschien ihm ganz und gar nicht verlockend. Immerhin hatte er das Glück gehabt, dass der Würfel in den letzten Wochen eine andere Tätigkeit stets als wichtiger befunden hatte. Dementsprechend gestaltete sich die Unordnung, die unterdessen ein solches Ausmaß angenommen hatte, dass Necker zum Würfeln auf den Esstisch ausweichen musste.
    Schicksalsergeben nahm er dies hin, genauso wie die »Fünf«, die ihm geboten hätte, seinen greisen Eltern einen Besuch abzustatten. Diese Möglichkeit erschien ihm eigentlich noch drohender als der unaufgeräumte Schreibtisch.
    Dies freilich mochte er sich nicht eingestehen.
    Dieser fünfte Punkt war ein Continuum auf Neckers Würfelliste, allerdings nicht, weil er wie der sechste Absatz lange nicht eingetreten war, – gerade letzte Woche war er auf Empfehlung seines würfelförmigen Entscheidungsträgers (und zu ihrer größten Verwunderung) bei seinen Eltern gewesen, – sondern aus schlechtem Gewissen, das er ihnen gegenüber hegte (und das sie nota bene auch gerne nährten).
    Denn seit seiner Matura und dem darauf folgenden Auszug aus der herrschaftlichen Villa in der exklusivsten Wohngegend Wiens, der so genannten ›Cottage‹ (wie alles Vornehme von den Wienern Pseudo-Französisch, also ›koteesch‹, ausgesprochen) im 19. Wiener Gemeindebezirk, hatte er seine Familie nur mehr höchst sporadisch beehrt.
    Zwar war dies aus gutem Grund geschehen, war doch sein Verhältnis mit dem despotischen Vater und der bigotten Mama, die stets bestrebt war, die Fassade einer heilen Familie aufrechtzuerhalten, schon während seiner Jugend ziemlich zerrüttet gewesen.
    Doch nunmehr standen beide in den Achtzigern und niemand konnte wissen, wie lange sie noch am Leben bleiben würden.
    Die Vorstellung, plötzlich vor dem Sarg eines seiner Elternteile zu stehen und sich dem Vorwurf auszusetzen, dass er sich zu ihren Lebzeiten nicht genug um sie gekümmert hatte und es nun dafür endgültig zu spät sei, erfüllte ihn dann doch mit Unbehagen.
    So beruhigte er sein schlechtes Gewissen, indem er
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