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Damenschneider

Damenschneider

Titel: Damenschneider
Autoren: Rupert Schöttle
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der sicherlich einen ganz anderen Weg eingeschlagen hätte, doch die Tragweite ihrer Entscheidung war der etwas einfach gestrickten Person offensichtlich nicht bewusst. Zu ihrer Entlastung sei jedoch gesagt, dass der kleine Erwin keineswegs über den Charakter und das Aussehen verfügte, die einen solch fröhlichen Kosenamen gerechtfertigt hätten. Schon als kleiner Junge zog er es vor, in einer Ecke mit sich alleine zu spielen, den anderen den Rücken zugewandt, damit ihn ja niemand in seiner eigenen Welt stören möge. Auch sein Äußeres war nicht dazu angetan, die Sympathien der anderen so ohne Weiteres zu wecken. Sein sehr rundes Gesichtchen wurde von einer riesigen, fleischigen Nase dominiert, auf deren Rücken eine Brille mit gurkenglasbodenähnlichen Gläsern saß und deren Bügel auf großen und etwas abstehenden Ohren ruhten. Seine extreme Kurzsichtigkeit dispensierte ihn im Übrigen auch von jeder sportlichen Betätigung, was einen weiteren Grund für sein Einzelgängertum darstellen sollte.
    So wurde also aus dem kleinen Erwin, dem auch ein ganz anderes Schicksal hätte zuteil werden können, eben der »Nekro«, der sich zu einem eigenbrötlerischen Kind entwickelte, den es mehr zu den Büchern hinzog als zu seinen Spielkameraden.
    Da er einer alteingesessenen und durchaus traditionsbewussten Wiener Familie entstammte, deren Mitglieder seit dem 19. Jahrhundert die weiland weltberühmte Wiener Ärzteschaft bereicherten, war dem kleinen Nekro der Berufsweg vorgegeben. Mit einem solchen Namen und der familiären Tradition blieb ihm eigentlich keine andere Wahl – er war zu seinem Beruf als Gerichtsmediziner geradezu prädestiniert (als »Winnie« hätte er es möglicherweise zu einem Internisten oder Frauenarzt bringen können). Die andere Möglichkeit, die ihm mit diesen Vorzeichen offen gestanden hätte, die Pathologie also, hatte er schon sehr früh wegen ihrer recht theoretisch anmutenden Ausrichtung rundweg abgelehnt.
    Allerdings sollten wir der Kindergärtnerin nicht die alleinige Schuld an Nekros außergewöhnlicher Wahl zuweisen, denn anders als in vielen Fällen, wo die familiäre Tradition geradezu zur Last werden kann, hatte er diesen Berufszweig letztlich sogar aus einem inneren Drang heraus gewählt.
    Denn kaum war er des eigenständigen Lesens mächtig geworden, zogen ihn wilde Mördergeschichten in ihren Bann. Als sich seine Schulkameraden noch mit der Literatur eines Karl May beschäftigten, der ihn im Übrigen nur als Person aufgrund seiner schillernden Biographie interessierte, investierte er sein Taschengeld heimlich in die so genannten Heftchenromane von »Jerry Cotton« und Konsorten, eine Wahl, die seine gutbürgerlichen, von Bildung beflissenen Eltern keineswegs gebilligt hätten.
    Die las er dann in aller Stille, fasziniert von dem üblen Gesindel, dem der Held zielsicher auf die Spur kam. Übrigens nicht ohne Sympathie für die Verbrecher, die dieser Sympathie aufgrund ihrer dilettantischen Vorgehensweise letztendlich dann doch verlustig gingen. Später dann, nach der Entwicklung seines literarischen Geschmacks, waren es dann die amerikanischen Autoren wie Eric Ambler oder Jim Thompson, die ihn faszinierten.
    Seine Flucht in die Scheinwelt des Verbrechens war freilich auch eine Flucht vor dem despotischen Vater und der ständig jammernden, aber durchaus dünkelhaften Mama gewesen.
    Mit einer solchen Biographie verwunderte es nicht, dass sich Nekro zu einem entscheidungsschwachen Charakter entwickelt hatte, und er wäre wohl jeden freien Abend zu Hause geblieben, hätte er nicht das Würfelorakel gefunden.
     
    Langsam öffnete er seine Augen.
    Mit gemischten Gefühlen sah er, dass der Würfel eine »Zwei« zeigte, mithin keine »Fünf« oder gar eine »Eins«, die er ja insgeheim am meisten gefürchtet hatte.
    Sein Kumpan Volkhammer, den er sogleich anrief, hatte an diesem Abend auch nichts Besseres vor, und so einigte man sich als Treffpunkt auf das Restaurant »Lux« am Spittelberg, wo es so manchen Samstagabend hoch herging.
    Angesichts der draußen herrschenden Witterung, – die ersten Frostnächte waren angesagt, – wählte er eine halblange mit Pelz gefütterte Lederjacke und ein wollenes Stirnband. Auf seinen Trachtenmantel und den dazu passenden Hut wollte er heute Abend doch lieber verzichten.
    Solchermaßen für seine Verhältnisse geradezu lässig angetan, spazierte er bald zu dem verabredeten Treffpunkt. Seine Wohnung grenzte unmittelbar an den Spittelberg, der in
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