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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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aussehe?«
    Plötzliches Erschrecken weitete ihre Augen.
    »Antworte doch«, befahl sie, als sie merkte, daß Adrienne den Mund nicht aufmachte.
    Adrienne zuckte mit den Schultern.
    »Ich habe nicht gesagt, daß du schlecht aussiehst«, sagte sie schnell.
    »Ich habe fünf Stunden geschlafen«, fuhr Germaine fort mit der Redseligkeit einer Person, die sich verteidigen will. »Ich fühle mich gut, es geht mir wie gestern und die Tage davor.«
    Doch Adrienne blickte zum Fenster hinaus und hörte ihr nicht zu.

 
II
     
    Das Haus der Mesurais trug den Namen Villa des Charmes, weil in dem schmalen Gärtchen, das sich bis zur Straße hinzog, tatsächlich zwei Hainbuchen wuchsen. Monsieur Mesurat hatte es gekauft, als er in den Ruhestand getreten war und den Beschluß gefaßt hatte, von nun an auf dem Land zu leben. Es gefiel ihm so gut, als habe er eigenhändig den Bauplan gezeichnet, doch im Viertel hörte man oft, daß es einem schöneren Haus den Platz wegnehme und in einer so wichtigen Straße wie der Rue Thiers armselig wirke. Um die Wahrheit zu sagen, es war ziemlich verbaut. Sicher hatte man den Architekten gebeten, so viele Räume wie möglich darin unterzubringen, und das Ergebnis war ein schrecklicher Schönheitsfehler: Zwischen den Fenstern der Fassade gab es nicht genügend Abstand, und beinahe berührten sie einander, vier im zweiten Stock, sechs im ersten und vier im Erdgeschoß, jeweils zwei auf jeder Seite der Eingangstür. Aber konnte man sich darüber beklagen, daß das Mauerwerk nicht mehr Platz einnahm? Es war aus einem so häßlichen Material! Man hatte für den Bau jenen rauhen, mit kleinen Zacken gespickten Stein verwendet, dessen Farbe an eine bestimmte Sorte von braunem Nougat erinnert. Hat man solche Häuser nicht schon häufig in den Vororten von Paris gesehen? Mit seiner vorspringenden terrassenartigen Außentreppe und dem gläsernen Vordach in Muschelform scheint es das Ideal einer ganzen Schicht der französischen Gesellschaft gewesen zu sein, sonst hätte man das immer gleiche Modell wohl nicht mit so unermüdlichem Eifer vervielfältigt.
    Wie dem auch sei, Monsieur Mesurat war nicht blind für die Unvollkommenheiten seines Hauses, und er beurteilte es mit jener Strenge, die man geliebten Menschen gegenüber zuweilen an den Tag legt. Vielleicht tat er dies, um sich nicht dafür schämen zu müssen. Wenn er mit Nachbarn über die Villa des Charmes sprach, hätte man meinen können, es handle sich um eine arme, aber ehrenwerte Verwandte. Gern hätte er es gesehen, daß man sie so bewunderte, wie er selbst sie bewunderte, und manchmal, am späten Nachmittag, wenn er seine Zeitung zu Ende gelesen und bis zur Abendessenszeit nichts mehr zu tun hatte, bedauerte er, keine Freunde zu haben, die er für einen Augenblick zu sich hereinbitten konnte, nur damit sie die Vorzüge seiner Villa würdigten, die Größe der Räume, die herrliche Aussicht auf den Garten der Villa Louise … Wer hätte von außen geglaubt, daß sie so wohlproportioniert war, so vollkommen? Würde man danach noch behaupten, ein Mesurat habe sich geirrt?
    Zu Hause gutgelaunt und tyrannisch, zeigte er sich von kindlicher Schüchternheit, sobald er die Schwelle der Villa des Charmes überschritt, und der Bahnhofsvorsteher von La Tour-d’Evêque war bislang der einzige Mensch, mit dem er sich ein klein wenig angefreundet hatte, tausend winziger Umstände wegen, deren gleichgültigster gewiß nicht der Ankauf seiner Zeitung war, den er zweimal täglich in der kleinen Bahnhofsbuchhandlung tätigte. Sicher waren schon Gäste in die Villa des Charmes gekommen, doch seit einiger Zeit, und aus Gründen, die sich noch zeigen werden, hatten diese Besuche aufgehört.
    Der auffällige Besitzerstolz Antoine Mesurats kam seinen Töchtern, die ihrerseits an der Villa des Charmes viel auszusetzen hatten, lächerlich vor, doch infolge einer Geistesverfassung, die ab einem gewissen Alter recht häufig auftritt, bemerkte er nichts, was ihn hätte verletzen oder in seinem Verhalten beeinflussen können.
    Dieser alte Mann war die Ausgeglichenheit in Person. Untersetzt und kräftig, mit einer Brust, an die er sich gerne mit den Fäusten schlug, als wolle er Bewunderung für ihren stattlichen Umfang erheischen, hatte er das gelassene und energische Gesicht jener Menschen, die es dem Leben nicht erlauben, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, und die in ihre gute Laune so verliebt sind wie der Geizige in seinen Schatz. Seine Augen verrieten niemals
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