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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
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Kanzlei, begann er, mich manchmal »Mäx the mäximal« zu nennen. Er ist einer der größten Spezialisten im Europäischen und Internationalen Recht, und ich vergötterte ihn schon, als ich ihn in Gastvorlesungen auf der Uni hörte. Einen Tag nach der letzten, mündlichen Prüfung des Zweiten Staatsexamens klingelte das Telephon und eine sachliche Frauenstimme bot mir einen Job an. Bei Rufus in Wien. Sie nannte als monatliches Einstiegsgehalt einen Betrag, von dem ich zuvor ein halbes Jahr gelebt hatte. Ich hätte auch nur für Kost und Logis bei ihm gearbeitet. Er ist ein Genie. Und er hat keine Ahnung davon, was mit mir los ist.
    Rufus, sage ich.
    Wie geht es Ihnen, fragt er.
    Sein Wienerisch mit amerikanischem Akzent klingt niedlich wie immer. Wer ihn nicht kennt, unterschätzt ihn gern.
    Fein, sage ich.
    Dann wundere ich mich, warum Sie nicht arbeiten, sagt er.
    Na gut, sage ich, es geht mir beschissen.
    Das dachte ich mir, sagt er. Ich erfuhr etwas von einem Unglücksfall, aber ich überblicke zu wenig, um zu kondolieren.
    Machen Sie sich keine Mühe, sage ich.
    Mäx, sagt er, Sie wissen, dass die Firma Sie braucht. Ich rufe an, um daran zu erinnern, dass SIE die FIRMA brauchen.
    Am hallenden Klang seiner Stimme höre ich, dass er sich im Konferenzzimmer befindet. Der Raum ist so groß wie meine ganze Wohnung, doppelt so hoch und hat Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen. Als ich das zum ersten Mal sah, dachte ich, Rufus sei einer, der alles im Leben erreicht hat. Und ich selbst einer, der alles erreichen würde.
    Es tut mir leid, sage ich, aber Sie irren sich.
    Nein, sagt er, Sie wissen es selbst. Sie kennen die beruhigende Wirkung des Rechtssystems, Mäx. Gebrauchen Sie das für sich.
    Rufus, ich bin drogenabhängig.
    Eine Weile ist die Leitung wie tot. Dann lacht er schallend.
    Mäx, sagt er, Sie wissen doch, dass dreißig Prozent aller bewundernswerten Juristen drogenabhängig sind. Und von denen arbeiten hundert Prozent bei uns.
    Der Witz ist mir zu mathematisch, um schnell genug hinterherzukommen. Natürlich weiß ich, wie es läuft. Alle haben Stress. Aber ich wusste nicht, dass er es weiß.
    Ich kann nicht zurück, sage ich. Ich habe schon aufgegeben.
    Was aufgegeben, fragt er.
    Etwas gegen das Rieseln an allen Mauern und Brückenpfeilern zu unternehmen, sage ich.
    Mäx, sagt er, haben Sie etwa zu dichten begonnen?
    Nein, sage ich.
    Sie wissen, sagt er, dass es eine Unzahl von jungen Rabulisten gibt, die alles opfern würden für Ihren Job?
    Ja, sage ich.
    Sie wissen auch, sagt er, dass es nicht vielen Menschen zustößt, nach neun Wochen Fehlzeit noch zum Bleiben aufgefordert zu werden?
    Das, sage ich, kann nur jemandem passieren, der bei Ihnen arbeitet.
    In meiner Vorstellung wird er noch kleiner, lederner und sonnenbrauner, als er ohnehin schon ist. Sein Bürozimmer in Wien ist das kleinste von allen und das einzige mit antiquarischen Möbeln anstelle der minimalistischen Holzkonstruktionen im Japanstil. Ich sehe Rufus vor mir, wie er zehn knallrote, beindicke Gesetzesbücher zu einem Podest aufeinander türmt, um in seinem Büro an das obere Regal mit den frühen NATO-Dokumenten aus den fünfziger Jahren heranzukommen. Er ist ein Phänomen. Das Radiomädchen erscheint kriechend im Türrahmen des Wohnzimmers. Ihre Backen sind ein bisschen feucht, sonst sieht man ihr fast nichts an. In gebührendem Abstand zu mir bleibt sie sitzen. Es tut gut, sie anzusehen.
    Außerdem, sagt Rufus, verdienen Sie ein Schweinegeld.
    Ach, das, sage ich.
    Sind Sie sicher, fragt Rufus, dass Sie nicht danach trachten, ein Dichter zu werden? Man weiß nie bei euch Deutschen.
    Ganz sicher, sage ich lächelnd.
    Sie bitten mich also um die Kündigung?
    Wir wissen beide, worum es geht. Ich hole tief Luft.
    Ich bitte Sie um eine betriebsbedingte Kündigung, verbunden mit einer gewaltigen Abfindung, sage ich.
    Sie haben nicht viel mehr als drei Jahre bei uns gearbeitet, sagt er.
    Ich antworte nicht. Ich weiß, dass er jetzt gegen sich kämpft. Auch wenn er mich mag, ich gehe zu weit.
    Alles Weitere schriftlich, sagt er schließlich. Viel Glück, Mäx.
    Viel Glück, Rufus, sage ich. Sie sind …
    Er hat schon aufgelegt. Ich lasse das Telephon aus der Hand fallen und beschließe, es endgültig abzuschaffen. Ich brauche es nicht mehr. Ich stopfe mir Bettzeug unter dem Nacken zusammen und suche eine kühle Stelle für mein Gesicht.
    Na dann, sagt das Radiomädchen plötzlich leise, dann hast du ja jetzt viel Zeit.

3 Loch
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