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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
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fühlt sich an wie ein Stück weichen Radiergummis, und ich muss es ausspucken. Wir sehen uns an.
    Soziologie und Psychologie, sagt sie.
    Klar, sage ich, toll. Das passt zu deiner Arbeit.
    Ich gehe jetzt, sagt sie.
    Und steht auf.
    Nein nein nein nein!
    Ich greife nach ihr, um sie wieder auf ihren Stuhl zu drücken. Sie entwischt. Ich will reden.
    Geh nicht, sage ich.
    Das 1000-Watt-Lächeln blendet sie, sie weicht weiter zurück. Vom Flur aus wirft sie mir ein Päckchen Zigaretten zu.
    Rauchen wir eine zusammen, rufe ich.
    Ich rauche nicht, sagt sie. Die Kippen gehören zur Arbeitsausstattung. Bei Besuchen wie diesem.
    Sie nimmt ihre Jacke und ich höre mich weiterfaseln, dass sie bleiben soll, das Reden klappt mit Hochgeschwindigkeit, trotz der halbgelähmten Sprechwerkzeuge. Ich muss mich mit jemandem unterhalten. Es gibt so viele feine strahlende Wörter in mir, sie brauchen einen Adressaten. Ich fühle mich wie ein Gefäß, in dem Glühwürmchen durcheinander wirbeln. Ich will sie verschenken. Ich gehe zu Grunde, wenn das Radiomädchen jetzt abhaut.
    Tschüs, sagt sie, ich komme wieder.
    Die Tür kracht hinter ihr ins Schloss, und ich lasse mich auf den kühlen Kachelboden fallen und fange an, die Nationalhymne zu singen. Ein anderes Lied fällt mir nicht ein.

2 Tiger (Eins)
    I ch erwache vom Klingeln des Weckers. Meine Finger sind um die Kante des untersten der kreuz und quer an den Türrahmen genagelten Bretter gekrallt. Der anschwellende, elektronische Ton dringt durch die Wände der Wohnung, als wären sie aus Papier, jeden Morgen und Abend regelmäßig um sieben, zur Stunde, in der er Jessie und mich an ihrem letzten Morgen geweckt hat. Ich höre ihn von der Küche aus, im Wohnzimmer, und erst recht hier im Flur. Ich danke Gott, dass ich damals zufällig einen Voice Control gekauft habe.
    Sei ruhig!, rufe ich.
    Weil er nicht reagiert, räuspere ich mich, hebe leicht das Gesicht und rufe noch einmal, so laut es geht.
    Halts Maul!
    Er verstummt. Noch viermal werde ich ihn anschreien müssen, wahlweise mit Fäusten oder Stirn gegen die zugenagelten Türen trommeln, im Abstand von jeweils drei Minuten. Falls ich mich noch auf irgendetwas freue, dann auf den Tag, an dem seine Batterie endlich erschöpft sein wird.
    Getrockneter Schweiß hat eine spröde Salzkruste über meiner Oberlippe und auf der Stirn hinterlassen. Wenn ich mit dem Finger darüber reibe, bröselt er weiß und fein herunter. Auf dem Boden, dicht vor meinen Augen, entsteht ein Mikrokosmos, eine Schneelandschaft. Ein Knäuel Staub ist der Wald, die kleine Speichelpfütze, die mir aus dem Mund gelaufen ist, ein See. Es schneit. Ich mache weiter, bis nichts mehr nachkommt. Dann blase ich hinein und stehe auf.
    Der Flur ist lang wie ein Eisenbahnwaggon und leer bis auf das Telephonschränkchen aus Aluminium neben der Eingangstür und einen schmalen, geknüpften Läufer, der schnurgerade darauf zuläuft, als könnte man sich ohne seine Hilfe auf dem Weg dorthin verirren. Auf dem Aluminiumschränkchen liegen das schnurlose Telephon und das Zopfband des Radiomädchens. Die beiden Gegenstände beißen sich. Ich nehme das Zopfband mit spitzen Fingern und lasse es hinter das Schränkchen fallen. Als ich das Telephon anfasse, stellen sich die Haare auf meinen Unterarmen auf. Da muss doch Blut und Gehirn dran gewesen sein, hat das Radiomädchen während meines Anrufs gefragt. Die ganze Zeit bin ich nicht auf ihren Namen gekommen, jetzt fällt er mir wieder ein: Clara.
    Jedenfalls nennt sie sich so in der Sendung.
    Die Hör- und Sprechmuscheln hatte jemand anderes sauber gemacht, und ich wunderte mich selbst, wie leicht es war, wieder ein Telephonat damit zu führen. Irgendwie gelang es dem Gegenstand, eine gewisse Neutralität zu wahren. Ich stand im Wohnzimmer, hatte das Gerät in der Hand und konnte den Blick nicht davon abwenden. Es passiert mir öfter, dass ich auf diese Art einraste. Vor meinen Augen verschwimmt alles, und im Kopf sehe ich Szenen und höre Stimmen. Es ist meine Art, mich zu erinnern. In jener Nacht blieb mein Blick starr im Leeren stehen, als ich ihm schließlich das Telephon entzog. Die Nummer von Claras Sendung kenne ich auswendig, sie wird alle zehn Minuten eingespielt und dabei in einer Melodie gesungen, die man sich leicht merken kann. Diese Melodie glaubte ich zu hören, während ich die Ziffern eintippte, und so war es mehr ein Mitsingen als das Wählen einer Telephonnummer. Ich drückte das Gerät an das gesunde Ohr. Obwohl
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