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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale
Autoren: Christian Foersch
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gegenüber diente als Zuschauertribüne. Dort saßen, neben der Presse, die Mitglieder des Lion’s und des Rotary Clubs, Bankdirektoren, Gemüsegroßhändler, Universitätsdozenten, der Theaterintendant, politische Repräsentanten von Stadt- und Provinzverwaltung. Etwas weiter oben Amanda und Eltern, Pirris Witwe in Schwarz, Dany, Michele Balboni, ja sogar der hagere Alberto Gasparotto hatte den Rollstuhl mit seiner kranken Frau die Schotterpiste an der Deichflanke hinabgeschoben. Silvia hatte, mit Mirko und Sara, einen Ehrenplatz in der ersten Reihe eingenommen. Mirko schien noch ein Stück gewachsen zu sein, und Saras Gesicht war reifer geworden. Vielleicht zeichnete sich darin der Schmerz über den Verlust des Vaters ab, vielleicht aber einfach die sechs Wochen, die Lunau fortgewesen war. Bei Stefan und Paul, seinen Söhnen, hatte Lunau jeden Samstag den Eindruck, sie hätten sich unterder Woche verändert, wären ihm schon wieder ein bisschen fremder geworden – trotz des Kompromisses, den er mit Jette gefunden hatte.
    Silvia schaute ihn an, ruhig und scheinbar ausdruckslos. Aber in ihren Augenwinkeln erkannte er ein Schmunzeln, wie an jenem letzten Abend. Es war dasselbe Schmunzeln, das er nachts aus den langen Gesprächspausen am Telefon heraushörte.
    Auf dem Podium regte sich etwas. Der junge Bürgermeister von Francolino, dem es zu verdanken war, dass die Mühle doch noch ihren Zweck als Freilichtmuseum erfüllen konnte, hatte sich erhoben. Er griff zum Mikrophon, begrüßte das Publikum und ganz besonders Silvia. Der Applaus zwang sie, sich ebenfalls zu erheben und sich, mit heißen Wangen nickend, zu bedanken. Lunau wurde unbehaglich zu Mute. Wie immer vor Publikum. Und wie immer, wenn er in der Nähe von Dr. Wilma Gerstner war. Sie saß neben ihm. Nun war es an ihr, das Mikro in die Hand zu nehmen und die Begrüßung von einem Blatt abzulesen, das Lunau ihr geschrieben hatte. Ihr Italienisch klang furchtbar. Aber sie wusste es nicht. Als Einzige bei dieser Veranstaltung.
    So wird man Chef, dachte Lunau. Als er seine Hörstücke produzierte, war Frau Gerstner unangekündigt im Tonstudio aufgetaucht. Sie hatte von der bevorstehenden Einweihung der Mühle erfahren, hatte das Lokalkolorit in seinen Hörstücken gelobt (»Herrlich! Herrlich! Das ist Italien!«) und sofort eine Chance auf »Synergien« erblickt. Die Folge davon waren ein Produktionszuschuss vom italienischen Tourismusverband und der Provinz Ferrara für die Sendeanstalt, Mehrarbeit für Lunau, der eine italienische Fassung erarbeiten musste, sowie eine Reise für zwei. Frau Dr. Gerstner in der Bussines Class, Lunau in der Touristenklasse.
    Und nun hallte die italienische Fassung der Hörstücke aus den Boxen hinter ihm. Geräusche, die Lunau im Deichvorland aufgenommenhatte, ein Musikakzent, dann setzte die Stimme des Brückenwärters ein, der davon erzählte, wie er als Kind über die schwimmende Brücke gelaufen war, um seinem Vater das Essen zu bringen. Wie sie gemeinsam nach Regenschauern die Kähne leer schöpfen mussten, auf denen die Holzplanken lagen, wie Schiffe ihr Kommen durch das Nebelhorn ankündigten und, je nach Breite, zwei oder drei Mal tuteten, weil aus der Brücke zwei oder drei Module ausgehakt und zur Seite gezogen werden mussten, damit das Gefährt die Lücke passieren konnte.
    Lunau suchte noch einmal das Publikum ab. Wer in Ferrara etwas auf sich hielt, war gekommen; der Brückenwärter und die Fährfrau, Serse Rabuffo oder der Schäfer waren nicht darunter.
    Aber dann meinte Lunau ein Geräusch zu hören, das nicht in der Tonmischung seiner Sendung war: Das Bimmeln der Schafglöckchen. Lunau suchte die Deichkante und das Vorland ab, das Flirren wurde immer stärker, manchmal kläfften die Hütehunde. Von dem Schäfer und seinen Tieren keine Spur. Setzten jetzt wieder die Halluzinationen ein, von denen Lunau geheilt schien, seit er fast im Fluss ertrunken wäre? In den vergangenen sechs Wochen war er mehrmals in der Nacht hochgefahren, weil er ein Geräusch gehört zu haben meinte, und jedesmal hatte er erleichtert festgestellt: Das Geräusch war wirklich da.
    Die letzten Töne verklangen, auch das Bimmeln der Herde, es wurde heftig applaudiert. Lunau glaubte, sogar einige Tränen der Rührung gesehen zu haben. Der Präsident der Provinzverwaltung ergriff das Wort und dankte Lunaus Sender für dieses bewegende Erlebnis.
    »Es ist schon kurios, dass die Deutschen kommen müssen, um uns die Schönheit unserer Heimat
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