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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale
Autoren: Christian Foersch
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ihn zusätzlich.
    »Ich hätte zwei Stunden Nachmittagsunterricht in der Schule gehabt. Sport. Was ich hasste. Ich hasste es, über irgendwelche Kästen zu hopsen, sinnlos im Kreis zu rennen oder mir von anderen gegen das Schienbein treten zu lassen.«
    Silvia runzelte die Stirn. Sie schien den Faden zu verlieren, wagte aber nicht mehr, Lunau zu unterbrechen.
    »Ich behauptete, ich hätte Fieber. Ich wollte eigentlich nur die c-moll-Etüde üben. Ich wollte meine Eltern beeindrucken. Wenn sie zurückkamen, sollten sie vor Ehrfurcht auf die Knie fallen. Vor ihrem begabten Sohn. Deshalb habe ich gelogen.«
    Silvia schüttelte den Kopf. »Es gib Schlimmeres.«
    »Nein. Nichts Schlimmeres als das, was folgte.«
    Lunau betrachtete die halb leere Weinflasche. Er wollte auch diese angenehme taube Schwere spüren. Trinken, bis er das Klicken im Kopf hörte und Stille herrschte. Aber er zwang sich fortzufahren.
    »Meine Schwester Vera war damals vierzehn. Sie war so …«, er unterbrach sich, denn jedes Adjektiv, das ihm einfiel, kam ihm banal vor. »Sie war bei einer Freundin, aber meine Eltern riefen sie aus Brasilien an, sie solle nach Hause fahren und sich um mich kümmern.«
    Silvia bewegte sich nicht. Sie wagte auch nicht mehr zu atmen. Ihr Blick schien entspannt, aber sie bewegte nicht einmal mehr die Pupillen.
    »Ich saß am Flügel und übte Chopin, stundenlang. Als es dunkel wurde, konnte ich die Etüde auswendig , und deshalb schaffte ich auch sämtliche Sprünge in der linken Hand. Sie wissen vielleicht nicht, was das bedeutet. Aber ein Elfjähriger, der Chopin-Etüden fehlerlos spielt …«
    Ein Pochen kam durch die Decke. Lunau schaute Silvia an, obsie das Geräusch auch gehört habe. Aber sie rührte sich nicht. Für Lunau hatte es so geklungen, als trete eines der Kinder gegen die Wand.
    »Und dann?«, fragte Silvia.
    »Vera ist nie angekommen. Sie ist auf dem Weg nach Hause verschwunden.«
    Silvia schaute verwirrt. Sie schien das Geräusch jetzt auch wahrgenommen zu haben. Aber nun war es wieder verstummt.
    »Sie meinen …?« Sie formulierte die Frage nicht aus.
    »Keiner weiß, was passiert ist. Es gab keine Unfallspuren auf der Strecke, keine Augenzeugen einer Entführung. Ein Busfahrer konnte sich an Vera erinnern. Am Fehrbelliner Platz hätte sie in die U-Bahn umsteigen müssen. Dort verlor sich ihre Spur. Und es gab nie wieder einen Hinweis.«
    Sie nickte. Und schwieg. Lunau war ihr dankbar dafür. Sie hätte nur sagen können, was er sich auch manchmal einreden wollte: Vielleicht lebte Vera noch. Irgendwo. War glücklich. Und selbst wenn man sie entführt, misshandelt, getötet hatte. Ihn traf keine Schuld. Nur den Täter.
    Er schaute sie wieder an, ihre Lippen, die so voll waren, voller als es die Natur für gewöhnlich vorsah.
    »Sie wollten mich doch etwas fragen«, sagte Silvia und schloss die Augen. Aber plötzlich erschien ihm seine Frage unwichtig.
    »Na, was war es? Ich weiß, dass Sie das schon seit Tagen umtreibt.«
    »Was ist ein Pidrüs?«
    Sie lachte: »Ein Pidrüs? Eines der Wesen, die durch die lokale Mythologie schwirren. Eine Mischung aus Schwein und Hund, die in Kloaken und schmutzigen Kanälen lebt. Man nimmt Auswärtige gerne damit auf den Arm, dass man sie auf Pidrüs-Jagd schickt. Aber sagen Sie nicht, dass Sie darauf hereingefallen sind.«
    »Nein«, sagte Lunau.
    Er beugte sich über sie und sah, dass sie ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. »Das war es aber nicht, was Sie mich fragen wollten«, sprach sie, mit geschlossenen Augen. »Sie wollen wissen, ob meine Lippen aufgespritzt sind.« Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an. »Stimmt’s?«
    Ihr Ton klang, als wäre das eine Geschmacklosigkeit. Als ob man eine Dame nach ihrem Alter gefragt hätte.
    »Ja, stimmt.«
    »Sind sie nicht. Sie sind von Natur aus so. Ich merke, wie mich manche Menschen wegen meiner Lippen verachten. Ich hatte sogar schon überlegt, ob ich sie verkleinern lassen soll. Damit man mich nicht für ein Dummchen hält. Aber dann dachte ich: Schönheitschirurgie, damit man vor Leuten sicher ist, die Vorurteile gegen Schönheitschirurgie haben? Etwas Dämlicheres gibt es ja wohl nicht, oder?«
    »Nein, wahrscheinlich nicht.«
    Er presste seine Lippen auf die ihrigen, suchte mit seiner Zungenspitze nach einer Antwort, die prompt und ohne Zurückhaltung kam. Silvia schmeckte nach Trauben und Alkohol, und noch einmal musste Lunau der Versuchung widerstehen, den Arm auszustrecken und ein paar Gläser
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