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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale
Autoren: Christian Foersch
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Wein in sich hineinzukippen. Aber dann schwieg auch dieses Verlangen. Seine Lippen wanderten über ihr Gesicht, während er ihre Finger unter seinem Hemd spürte und aus den Boxen die Geigen hackten, die Vivaldi so simpel und effektvoll arrangiert hatte.
    »Reise nicht ab«, flüsterte sie, »bleib bei uns.«
    Sie stand auf und zog ihn aus dem Sofa, packte die Rotweinflasche wie eine Keule und führte ihn die Treppe hoch.
    Vor der Schlafzimmertür sagte Lunau: »Ich glaube nicht, dass das richtig ist. Mein Leben ist …«
    »Das hier ist nicht dein Leben.«
    Sie zog ihn in das finstere Zimmer. Man hörte nur ihrer beider heftigen Atem, es duftete nach frischer Wäsche und ganz entfernt nach Mottenkugeln.
    »Zieh das an!«
    Sie reichte ihm einen Kleiderbügel, auf dem ein Anzug mit Hemd und Krawatte hing. Di Natales Sachen.
    »Aber …«
    »Bitte, tu es für mich.« Als sie seinen verstörten, widerwilligen Gesichtsausdruck sah, sagte sie: »Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, ich weiß. Lass es uns einfach genießen.«
    Lunau kam Jette in den Sinn. Und ein letztes Mal wollte er sich zur Ordnung rufen. Aber dann waren ihre Finger schon mit seinen Knöpfen beschäftigt. Sie hatte ihr Kleid zu Boden rutschen lassen, stand in einem Seidennegligé vor ihm und zog ihn aus. Das Geräusch seines Reißverschlusses, das Knistern des Stoffes. Als er nur noch Socken und Slip trug, zog er sie an sich, presste sein hartes Glied an ihren Bauch, doch sie ließ sich nicht beirren und dirigierte ihn in die Hemdärmel, in die zu kurze Hose und in das Jackett.
    »Gleich«, sagte sie, »du bekommst mich ganz.«
    Er spürte die Luft, die unter die Hochwasserhosen strich, den Bund der zu kurzen Jackettärmel an Elle und Speiche. Sie legte sich auf das Bett, schaltete eine Nachttischlampe an und betrachtete Lunau. Sie schloss die Augen und flüsterte: »Komm!«

EPILOG
    Der 13. Juni war wieder ein Sonntag. Die Schulferien hatten begonnen, und die Superstrada , die schnurgerade Hauptverkehrsader zwischen Ferrara und dem Meer, hatte sich in eine zähflüssige, in der Frühsommerhitze blinkende Blechkarawane verwandelt, die sich mit quälender Langsamkeit durch Reisfelder und einstige Sümpfe schob, auf die Romea , die Küstenstraße, ergoss und von dort in die so genannten Lidi Ferraresi sickerte, Badeorte, die verschiedene Namen und Abfahrten hatten, in Wahrheit aber eine einzige anonyme Neubausiedlung bildeten. Es war nicht erkennbar, warum die Menschen sich dieser Tortur aussetzten, nur um dicht an dicht auf glühend heißem Sand zu liegen, vor einem Wasser, in das der Po die Umweltgifte des industrialisierten Nordens leitete.
    Und auch das Gift des politischen Alltags nahmen die Ferrareser mit ans Meer. Sie sogen es aus den Tageszeitungen, die sie auf ihren gemieteten Liegen lasen, aus den Fernsehnachrichten, die sie bei jeder Mahlzeit in ihren Ferienapartments verfolgten, während sie sich der Illusion hingaben, in der Stadt, die sie verlassen hatten, herrsche bis September Waffenruhe.
    Ferrara, einst Hochburg der faschistischen Bewegung, war seit Kriegsende, wie fast die ganze Emilia-Romagna, eine Bastion der linksliberalen Parteien. Die Rechte war in der Opposition, die Lega Nord hatte Mühe, zehn Prozent der Wählerstimmen zu erringen. Die Lega Nord hatte ihre Stammwählerschaft auf der anderen Seite des Pos. In der Lombardei und in Venetien. Doch die Partei wollte auch im restlichen Italien Fuß fassen, indem sieKandidaten aus dem Süden aufstellte, auf separatistische Parolen verzichtete, ansonsten aber weiterhin auf komplexe Fragen simple Antworten gab.
    Seit Lunaus Abreise vor sechs Wochen sezierte die lokale Presse den Lebenswandel Beppe Pirris. Beppe Pirri war zum Sinnbild einer überlebten politischen Klasse geworden, die Ferrara in einen neuen Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft gezogen habe. Der rechtslastige Carlino ritt immer neue Attacken, der linksliberale Tempo di Ferrara versuchte, Beppe Pirris Verfehlungen als Einzelfall, ohne politische Implikationen, darzustellen. Dass der Mörder Andrea Zappaterra hieß, war darüber in Vergessenheit geraten.
    Lunau sah die Journalisten der beiden Lokalblätter drüben auf dem Deich sitzen, während er den süßlichen Duft des Flusses roch, das sanfte Schaukeln des Schiffsrumpfes unter sich spürte, die Holzzahnräder und das Schaufelrad ächzen hörte. Man hatte die schwimmende Mühle an Stahlpilonen vertäut und in eine Bühne verwandelt. Der terrassierte Deich
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