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Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 3

Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 3

Titel: Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 3
Autoren: Kerstin Gier
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dem Sand gezogen und vorsichtig gesäubert. Bis auf eine kleine Delle war er unversehrt, was man von Ingo aber leider nicht behaupten konnte.
    »Gie hak angehangen«, heulte er und zeigte auf mich, und dabei sah man, dass einer seiner Schneidezähne verschwunden war. Da der Zahn später auch bei gründlichster Durchsuchung des Geländes nicht wieder aufzutreiben war, ist zu vermuten, dass Ingo ihn hinuntergeschluckt hat.
    »Das ist nicht wahr«, verteidigten mich Kati und Gabi. »Er hat zuerst getreten.«
    »Sie wollte mich aber zuerst totmachen«, heulte Ingo. »Totmachen wollte sie mich!«
    Ich nickte. Da gab es nichts zu leugnen. Er hatte recht. Ich hatte ihn umbringen wollen. Ihn und dieses Mondgesicht von Martin gleich mit. Obwohl meine Wut allmählich verrauchte und auch der Schmerz zwischen meinen Beinen nachgelassen hatte, bereute ich nichts.
    »Das ist nicht tragbar«, sagte Tante Gerti zu mir. »Eine solche Eskalation von Gewalt kann ich in diesem Heim nicht zulassen.«
    Obwohl ich nicht genau verstand, was sie sagte, schöpfte ich Hoffnung. Hieß das, ich durfte nach Hause?
    »Das Nasenbein ist gebrochen«, sagte Tante Anke, die mit Taschentüchern an Ingo herumtupfte. »Zweimal!«
    »Mein Gott«, sagte Tante Gerti.
    »Ich würde es jederzeit noch einmal machen«, sagte ich zu Tante Gerti. Ich hatte keine Angst mehr. Auch nicht vor Tante Gerti.
    Tante Gerti erwiderte meinen Blick zuerst angewidert, dann sah ich tatsächlich so etwas wie Furcht in ihren Augen. Sie ging ins Haus, um zu telefonieren. Noch am selben Abend kamen meine Eltern, um mich abzuholen, genau zehn Tage früher als geplant.
    »Sie will sich nicht mal entschuldigen«, sagte Tante Gerti, die mich für den Rest des Tages in ihrem Büro eingesperrt hatte, um die Kinder vor mir zu schützen. »Sie zeigt nicht den leisesten Hauch von Schuldbewusstsein. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ein Kind mit einem derart hohen Gewaltpotenzial ist mir in den ganzen Jahren meines pädagogischen Wirkens noch niemals untergekommen.«
    Meine Eltern betrachteten mich voller Staunen. Sie betrachteten auch den zugepflasterten Ingo voller Staunen. Mein Vater schenkte ihm eine Tafel Schokolade.
    »Hanke«, sagte Ingo, ohne ihm in die Augen zu schauen.
    »Das wäre nun die letzte Gelegenheit, sich zu entschuldigen«, sagte Tante Gerti zu mir.
    »Wenn ich du wäre, würde ich keinem Mädchen mehr zwischen die Beine treten«, sagte ich zu Ingo.
    »Sehen Sie, was ich meine?« Tante Gerti schnalzte mit ihrer Zunge. Dann brachte sie eine nicht uninteressante Theorie ins Spiel: »Möglicherweise liegt es ja an ihrem Eisenmangel, dass sie so blutrünstig geraten ist.«
    »Möglicherweise liegt es auch an diesem Umfeld«, sagte mein Vater, der mein Gepäck aus dem Schlafsaal geholt hatte. »Das sieht ja hier aus wie im Knast.«
    »Sie müssen es ja wissen«, sagte Tante Gerti spitz.
    Meine Mutter legte einen Arm um mich. »Wir gehen dann jetzt besser. Sag lieb auf Wiedersehen, Kerstin.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich lieb und winkte Gabi und Kati zu. Obwohl meine Mutter mich eilig zur Tür schob und ich es gar nicht erwarten konnte, ins sichere Auto zu gelangen, hatte ich das Gefühl, noch ganz dringend etwas sagen zu müssen. Also blieb ich noch einmal stehen.
    »Mädchen können genauso gut auf Bäume klettern wie Jungs!«, sagte ich. »Und man soll seine Unterhosen jeden Tag wechseln! Wegen der Hyäne.«
    »Das stimmt«, sagte mein Vater. Er wusste einen guten Abgang immer zu schätzen. Und ob Hyäne oder Hygiene spielte in diesem Zusammenhang wirklich keine Rolle.
    Im Auto herrschte erst einmal ein paar Minuten Schweigen. Ich sah mit großer Erleichterung durch die Heckscheibe, wie das Ferienheim immer kleiner wurde und schließlich ganz hinter den Hügeln verschwand.
    »Wir hatten dich gewarnt!«, sagte meine Mutter und zog mich ganz fest in ihre Arme. »So ein Ferienheim ist nichts für dich.«
    »Ich weiß«, sagte ich, und endlich, endlich konnte ich in Tränen ausbrechen und weinen, ohne dass jemand mich als Heulsuse beschimpfte.
    »Mein Gott, war dieser Junge schrecklich zugerichtet«, sagte mein Vater, als ich aufgehört hatte zu weinen und nur noch ab und an ein Schluchzer tief vom Grund meines Zwerchfells nach oben drang.
    »Vorher war er aber noch viel hässlicher«, sagte ich. »Ehrlich.«
    Meine Eltern tauschten besorgte Blicke, wahrscheinlich fürchteten sie, Tante Gerti könnte am Ende recht haben, was mein Gewaltpotenzial anging. Aber
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