Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2

Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2

Titel: Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2
Autoren: Kerstin Gier
Vom Netzwerk:
machen, sie sagte, sie bräuchte ein richtiges Klo.
    »Sie braucht ein richtiges Klo«, sagte auch Tante Hannelore.
    »Man sollte jedem Kind beibringen, beizeiten in einen Eimer zu pinkeln«, sagte meine Oma und beäugte vielsagend den stählernen Abfallkorb neben dem Picknicktisch. »Eine solche Fähigkeit erleichtert das Leben ungemein.«
    Die Erwachsenen taten so, als hätten sie nichts gehört.
    Tante Hannelore versuchte, Helena die Büsche schmackhaft zu machen, weil sie mal von einem Mädchen gehört hatte, dessen Blase geplatzt war, weil es nicht rechtzeitig Pipi gemacht hatte. Aber Helena heulte und bestand auf einem richtigen Klo. Wir stiegen alle wieder in die Autos, und Onkel Hermann fuhr bis zur nächsten Raststätte, als ob es um Leben und Tod ginge.
    Meine Schwester und ich fanden es aufregend, vielleicht bald persönlich ein Mädchen zu kennen, dessen Blase geplatzt war, weil es nicht rechtzeitig Pipi gemacht hatte.
    Helenas Blase platzte aber nicht, und zur Belohnung bekam sie eine Limo spendiert. An der nächsten Raststätte setzte Onkel Hermann deshalb gleich wieder den Blinker.
    »Von mir kriegte der Panz nur eins hinter die Ohren«, sagte meine Oma, die nie in ihrem Leben Schläge ausgeteilt hatte.
    Meine Schwester und ich waren ganz ihrer Meinung, aber wir durften Helena nur ausgucken, und das merkte Helena gar nicht. Gut gelaunt belegte sie bei der Ankunftin unserer Ferienwohnung in Zermatt erst einmal die Toilette mit Beschlag.
    Meine Oma mütterlicherseits war oft mit dabei, wenn wir in den Skiurlaub fuhren. Nur in der Schweiz konnte sie ihre Kuhfellstiefel Größe 36, die Nerzkappe und den Nerzmantel tragen, für den sie sechsundzwanzig Jahre gespart hatte. Zu Hause war es für diese pelzige Garderobe weder vornehm noch kalt genug. Wir profitierten sehr von Omas Gesellschaft. Wenn wir Ski fuhren, machte sie lange Schneespaziergänge, kaufte ein und kochte das Essen. Außerdem holte sie mich jeden Mittag pünktlich an der Skischule ab und zog mich an meinen Stöcken bis nach Hause. Die einzige Gegenleistung, die sie für ihre Dienste verlangte, war das abendliche Kanasterspiel, bei dem wir sie öfter als nötig gewinnen ließen.
    Helena war ein Einzelkind, und sie bediente wirklich alle Klischees, die man Einzelkindern so zuschreibt. Dass sie das einzige Bad in unserer Ferienwohnung jeden Morgen für eine geschlagene Dreiviertelstunde blockierte, fand sie absolut selbstverständlich, obwohl meine Schwester vor der Tür einen Ohnmachtsanfall simulierte und sagte: »Noch eine Sekunde, und ich bin das Mädchen, von dem Tante Hannelore gehört hat, dessen Blase geplatzt ist.«
    Wenn umgekehrt jemand von uns im Bad war, kam garantiert Helena angerannt und musste mal Pipi. Oder sie wollte einfach nur ihr schönes langes Haar im Spiegel bewundern. Nicht mal in Ruhe die Zähne putzen konnte man sich.
    »Das Kind wird noch mal große Probleme bekommen, wenn es nicht lernt, seine Blase zu kontrollieren und in einen Eimer zu strullen«, sagte meine Oma zu Tante Hannelore.
    »Sie ist eben nicht so …, äh, rustikal wie andere Kinder«, sagte Tante Hannelore. Es war ganz klar, dass sie mit »anderen Kindern« meine Schwester und mich meinte.
    »Was ist rustikal?«, fragte ich meine Schwester.
    »Tante Hannelores Schrankwand ist rustikal«, antwortete meine Schwester. Da ich mir ziemlich sicher war, dass die Schrankwand von Tante Hannelore nicht in einen Eimer strullen konnte, war ich verwirrt.
    Meine Eltern mochten Helena gern, sie hatte goldblonde Locken, niedliche Grübchen und einen beneidenswert goldbraunen Teint. Außerdem konnte sie Violine spielen. Und sie hatte, oberflächlich betrachtet, ein ausgeglichenes, sonniges Wesen, ohne vorpubertäre Zickenallüren oder kleinkindhafte Trotzanfälle, von denen wir ab und an heimgesucht wurden.
    In Wirklichkeit hatte Helena es faustdick hinter den Ohren, aber die Einzige, die das außer uns erkannte, war meine Oma.
    »Von wegen nicht rustikal«, sagte sie.
    Zum Pudding gab es oft Fruchtsalat aus der Dose, darin, sparsam verteilt, leuchtend rote Kaiserkirschen. Die Kaiserkirschen waren das Beste an diesem Fruchtsalat, und meine Schwester und ich achteten immer sorgfältig darauf, dass keiner mehr Kaiserkirschen bekam als die andere. Helena, als Einzelkind, wäre nie auf die Idee gekommen, die Früchte im Dessert zu zählen, und die Kirschen mochte sie auch gar nicht besonders. (Unter uns: Sie waren auch nichts Besonderes. Ich habe mir unlängst aus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher