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Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2

Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2

Titel: Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2
Autoren: Kerstin Gier
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Autofahrern hinter uns zuwinken.
    Was wir nicht durften, war anderen einen Vogel zeigen oder die Zunge herausstrecken. Blockierte ein Autofahrer die linke Spur, fuhr zu nah auf oder benahm sich sonst irgendwie flegelhaft, sagte meine Mutter voller Empörung: »Also, den dürft ihr jetzt aber mal ausgucken !«
    Ausgucken war so ziemlich das Schlimmste, das man jemandem antun konnte. Wer weiß, wie viele Menschen damals ein Trauma davongetragen haben, weil sie beim Überholen von zwei kleinen Mädchen ausgeguckt wurden.
    Das Ausgucken war ein Prinzip, das sich von der Autobahn auf alle anderen Lebensbereiche übertragen ließ. Bisheute streiten wir nicht, wir schreien nicht, wir schimpfen nicht, wir werden nicht handgreiflich – wir gucken aus. Sogar am Telefon.
    Als Kind bin ich gern verreist. Ich musste mich um nichts kümmern, meine Mutter packte für uns, mein Vater kutschierte uns, und hinten auf dem Rücksitz war es immer sehr gemütlich. Egal, was ich dort auch tat – lesen, essen, die Scheiben ablecken, Kopf stehen – niemals wurde mir auch nur im Entferntesten übel.
    Wenn es uns mal langweilig wurde, spielten wir »Ein Tier mit B« und »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Wir sangen auch viel, Lieder mit so mystischen Texten wie »Hau Männi, Rods, Mast Emen Wok Daun« oder »Heißa Kathreinerle, schnür dir die Schuh«. Manchmal sangen meine Eltern auch Duette aus Oper und Operette, und meine Schwester und ich hielten uns gegenseitig die Ohren zu.
    Meine Schwester schlief viel auf diesen Autofahrten, und wenn sie einmal schlief, war sie durch nichts mehr zu wecken. Sie kam immer schon sehr erholt am Ferienort an. Eingekuschelt in ihre Sitzecke verschlief sie umgekippte LKWs, Waldbrände, Wildschweine auf der Fahrbahn und alle Strophen von »John Brown’s Baby has a pimple at his nose«. Aber wenn wir die Grenze zur Schweiz passierten, egal zu welcher Jahres-, Tages- oder Nachtzeit, pflegte sie sich zu rekeln und, noch bevor sie die Augen geöffnet hatte, zu sagen: »Ich rieche die Schweiz.«
    Ich war immer enttäuscht, wenn wir nicht in oder wenigstens durch die Schweiz fuhren, denn ich wartete immer gespannt auf den Augenblick, in dem meine Schwester dieSchweiz roch. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, was es für ein Geruch war und warum er so intensiv war, dass er sie aus dem allertiefsten Tiefschlaf zu wecken vermochte. Käse war es jedenfalls nicht.
    Verglichen mit den Kindern von heute waren wir ausgesprochen pflegeleichte Mitreisende, meine Schwester und ich. Wenn wir nicht schliefen, wickelten wir meinem Papa die Hustenbonbons aus dem Papier, putzten seine Sonnenbrille und kratzten meine Mutter am Rücken, da, wo sie selber nicht drankam. Wir traten nicht von hinten gegen die Lehne, wir kleckerten nicht mit klebrigen Substanzen, und wir nervten auch sonst nicht rum. Wir genossen die Fahrt einfach, und das ist auch gleich das erste Geheimnis eines glücklichen Reisenden.
    DER WEG IST DAS ZIEL.
    Die klassische Frage: »Wann sind wir endlich da?«, mit denen Kinder ihre Eltern ab der ersten Kurve in den Wahnsinn zu treiben pflegen, haben wir sicher nie gestellt. Und Pipi musste auch immer nur unsere Cousine Helena.

Helena muss Pipi
oder von der Kunst, in einen Eimer zu pinkeln
    Hermann blinkt!«, sagte meine Mutter zu meinem Vater.
    »Helena muss Pipi«, sagte meine Schwester.
    »Verdammt, nicht schon wieder«, stöhnte mein Vater. »Der nächste verdammte Rasthof ist doch erst in fünfzehn verdammten Kilometern. Wir sind jetzt schon zwei verdammte Stunden später dran, weil wir an jedem Rasthof anhalten mussten.«
    »Da vorne ist ein verd… – ein Parkplatz«, sagte meine Mutter. »Und sag nicht immer verdammt!«
    Aber in Wirklichkeit ärgerte sie sich auch, denn jede Minute Verspätung bedeutete eine Viertelstunde längere Wartezeit vor dem Autozug durch den Lötschbergtunnel. Und meine Mutter hasste Warten. Sie sagte, sie bekäme davon weiße Haare.
    »Die sollten mit dem Panz mal zum Doktor. Das ist doch nicht normal«, sagte meine Oma. »Wahrscheinlich ist dem seine Blase so klein wie dem Hermann sein Hirn.«
    »Unsinn«, sagte meine Mutter. »Sie geben ihr nur zu viel zu trinken. Und sag nicht immer Panz zu Helena. Sie ist ein sehr liebes Mädchen.«
    »Und mein Mops ist Schönheitskönigin«, sagte meine Oma, die überhaupt keinen Hund hatte.
    Auf dem Parkplatz gab es keine Toiletten, nur dichtes Gestrüpp hinter den Picknickbänken. Helena wollte nicht hinter den Büschen Pipi
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