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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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auszuhändigen und sie in Restaurants auszuführen, in denen es noch die Einrichtung der »Damenspeisekarte« gibt. Eine Weile fühlt sich die Autorin geborgen, hat zum ersten Mal im Leben den Eindruck, das Rastlose ihrer Existenz abgestreift zu haben. Doch nach und nach setzt das Gefühl ein, dass dieses Leben auch nicht alles gewesen sein kann. Dass die Geborgenheit, die sie zu verspüren meint, schal wird. Dass die Autorin als junge, gut ausgebildete, ehrgeizige Frau der Anforderung, einen Weg für sich selbst finden zu müssen, nicht ausweichen kann.
    Wer einmal den Duft der Freiheit geschnuppert hat, fühlt sich auf Dauer in keinem Käfig mehr wohl. Ganz gleich, wie edel dieser parfümiert ist.

Entscheiden lernen
     
    In dem Lied »So viel Leben« der jungen Berliner Band »Mathilda« heißt es halb ironisch, halb resigniert: »Was fang’ich mit so viel Freiheit an? Da brauch’ ich ja einen, der frei sein kann, einen, der weiß, wie’s geht.«
    In keiner anderen Gesellschaft, zu keiner anderen Zeit haben die Frauen so viele Freiheiten gehabt, wie die heutigen Frauen in den westlichen Gesellschaften: Wir sind frei, den Lebenspartner zu wählen, den Beruf, den Wohnort. Wir sind frei, uns für oder gegen Kinder zu entscheiden. Allesamt Freiheiten, die von unseren Vorgängerinnen mühsam erfochten wurden. Und von denen die Frauen in der arabischen Welt, in Bangladesh, in weiten Teilen Afrikas oder Lateinamerikas immer noch träumen müssen.
    Warum tun sich viele von uns dann so schwer damit, diese Freiheiten beherzt zu ergreifen, sondern fühlen sich von diesen Freiheiten stattdessen gelähmt?
    In Freiheit zu leben, bedeutet Entscheidungen treffen zu müssen. Und zwar nicht nur die, ob ich mir lieber eine grüne, eine gelbe oder gar keine Handtasche kaufe – sondern vor allem bedeutet es, fundamentale biografische Entscheidungen zu treffen. Jede Entscheidung ist aber von der Angst begleitet, es könnte die falsche gewesen sein. Und in der Tat: Niemand garantiert uns, dass wir richtig liegen.
    Kluge Entscheidungen treffen zu können ist keine Gabe, die vom Himmel fällt. Je unübersichtlicher die Welt wird, desto wichtiger ist es, einen Instinkt dafür zu entwickeln, wer ich bin – und was für mich im Leben gut ist. Sonst geht es mir wie dem Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, von welchem er zuerst fressen soll. Die allerwenigsten von uns sind so klare Einzelbegabungen oder bringen so klare Anlagen mit, dass sie mit fünfzehn schon wissen: »Ich will Informatikerin werden. Heiraten will ich auch, und spätestens mit dreißig bekomme ich mein erstes Kind« – und dann auch tatsächlich imstande sind, auf dieses Ziel unbeirrt zuzumarschieren. Alle anderen müssen sich an das, was sie im Leben wollen, erst mühsam herantasten.
    Nun scheint das Problem von Frauen wie Nina oder Elisabeth Raether nicht zu sein, dass sie zu wenig ausprobiert hätten. Im Gegenteil: Es ist sprichwörtliches Kennzeichen der »Generation Praktikum«, dass sie höchst mobil ist, vielseitig ausgebildet, in alle möglichen Berufsfelder hineingeschnuppert und auch auf dem Feld der Beziehungen wenig unversucht gelassen hat. Allerdings scheint bei ihnen dieses Ausprobieren nicht dazu geführt zu haben, dass sie zehn Jahre später eine klarere Ahnung davon hätten, wer sie sind. Viele stehen mit Ende zwanzig weit ratloser und frustrierter da, als sie es nach dem Schulabschluss je gewesen sind. In Amerika hat sich dafür bereits der Begriff der Quarterlife Crisis eingebürgert.
    Offensichtlich ist also nicht jedes Ausprobieren ein produktives Ausprobieren. Als »überdrehte Erstarrung« bezeichnet es der Psychologe Stephan Grünewald, wenn man von einer Stadt in die nächste, von einem Praktikum zum nächsten, von einer Partnerschaft in die nächste hetzt und sich dennoch in einer einzigen Warteschleife gefangen fühlt.
    Die Angst davor, sich festzulegen, klare Entscheidungen zu treffen, regiert immer tiefer in unser Alltagsleben hinein: Jeder, der in den letzten Jahren versucht hat, eine Silvesterparty zu organisieren, dürfte die Erfahrung gemacht haben, dass die meisten Gäste nur unter Vorbehalt zusagen. Denn wer weiß, vielleicht kommt ja die »noch tollere« Einladung ins Haus geschneit... Nicht selten führt diese Zögerlichkeit dazu, dass man am Schluss den Jahreswechsel allein zu Hause verbringt. Und zwar nicht, weil man es genießen würde, um Mitternacht den Korken allein knallen zu
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