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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando
Autoren: Charles Stross
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Russland hat die kommunistische Regierung
wiedergewählt, sie hat jetzt sogar eine noch größere
Mehrheit in der Duma. In China kursieren mittlerweile heiße
Gerüchte über eine bevorstehende Rehabilitation und die
Wiederkehr von Mao, der die Menschen von den Folgen der
Drei-Schluchten-Katastrophe, dem Desaster bei der Aufstauung des
Jangtsekiang, erlösen soll. Wirtschaftsnachrichten:
Ironischerweise regt sich das amerikanische Justizministerium
ungeheuer über die Gesetzesvorlagen zur Geburtenregulierung auf.
Die entmachteten Abteilungen von Microsoft haben ihre legalen
Vorgehensweisen vereinheitlicht und jede Menge Tochtergesellschaften
gegründet, deren Aktien an der Börse notiert werden. In
einer bizarren Parodie auf den Protoplasmaaustausch von Bakterien
wechseln die Rechtstitel daran so schnell, dass die Zielobjekte gar
nicht mehr existieren, wenn Steuer auf den Spekulationsgewinn erhoben
wird – obwohl immer noch dasselbe Personal an derselben Software
in denselben Hasenställen in Mumbai arbeitet.
    Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.
    Die Dauerparty, der Manfred sich jetzt anschließen will
– dabei begegnen sich die virtuellen Instanzen in persona und sie wechselt von einem Ort zum anderen – ist für
manche der Exilamerikaner, die in diesem Jahrzehnt Europas
Städte überfluten, ein seltsamer Attraktor. Diese
Amerikaner sind keine Trustafarians, keine verwöhnten
College-Kids, die von den Zinsen ihrer reichen Eltern leben, sondern
aufrichtige politische Dissidenten, Leute, die sich vor dem
Wehrdienst drücken, oder Opfer von endgültigen
wirtschaftlichen Auslagerungen, die sie den Job gekostet haben. Die
Party ist ein Ort, an dem verrückte Verbindungen geknüpft
werden und sich Linien so kreuzen, dass sie in der Zukunft zu neuen
Schaltkreisen führen werden. Darin ähnelt die Party den
Straßencafés der Schweiz, in denen sich die russischen
Exilanten vor dem Ersten Weltkrieg trafen. Derzeit findet die Party
im Hinterzimmer von De Wildemanns statt, einem dreihundert
Jahre alten Café in Brauntönen. Die Getränkeliste
dort umfasst sechzehn Seiten, und die holzverkleideten Wände
haben die Farbe abgestandenen Biers. Die Luft ist dick und riecht
nach Tabak, Hefe und Melatonin-Spray: Die Hälfte der
Versprengten pflegt den vom Jetlag verursachten grässlichen
Kater, während die andere Hälfte in einem
fürchterlichen Mischmasch aus europäischen Sprachen
aufeinander einredet und dabei dem Kater beizukommen versucht.
    »Mann, haben Sie das gesehen? Der wirkt ja wie einer von der
Demokratischen Partei!«, ruft ein unterbelichteter Nervheimer,
(* Unterbelichteter Nervheimer: im Original whitebread hanger-on, wobei whitebread hier die pejorative Bedeutung von einfachem Gemüt hat, aber auch Anspielung auf die
amerikanische »Weißbrot«-Ideologie ist, siehe
Glossar; Anm. d. Ü.) der im Augenblick an der Theke
lehnt. Manfred schiebt sich neben ihn und fängt den Blick des
Barkeepers auf.
    »Eine Berliner Weiße, bitte.«
    »Sie trinken so was?«, fragt der Mann, für den
»gesunde« Ernährung offenbar ein Teil der Religion
ist, und legt die Hand schützend um seine Cola. »Mann, das
wollen Sie doch bestimmt nicht, da ist doch jede Menge Alkohol
drin!«
    Manfred grinst ihn breit an. »Man muss den eigenen Hefepegel
konstant halten. In diesem Zeug sind jede Menge Botenstoffe drin,
Neurotransmitter, Phenylalanine und Glutamate.«
    »Aber ich dachte, Sie hätten ein Bier
bestellt…«
    Manfred hört nicht mehr hin, seine Hand ruht auf dem glatten
Messingrohr, durch das die Zapfbiere, die hier höher im Kurs
stehen, vom Fasslager hinten zum Ausschank geschleust werden; einer
der Partygäste – er muss zu dem Teil gehören, der sich
stets auf dem Laufenden hält – hat eine Kontaktwanze dran
befestigt. Hier sind die virtuellen Visitenkarten aller Inhaber
persönlicher Netzwerke, die in den letzten drei Stunden die Bar
aufgesucht haben, aufgereiht und konkurrieren um Beachtung.
Während Manfred auf der Suche nach einem bestimmten Namen hastig
die verwirrende Liste der verborgenen Schlüssel durchgeht,
dringt lautes Ultrabreitband-Geschwätz sowohl via WiMAX als auch
über Bluetooth durch die Luft.
    »Ihr Getränk.« Der Barkeeper hält ihm einen
äußerst seltsamen Pokal voll blauer Flüssigkeit hin,
die oben von schmelzendem Schaum gekrönt wird. In bizarrem
Winkel ragt ein Strohhalm heraus, der eher an ein Instrument für
bestimmte Sexualpraktiken erinnert. Manfred nimmt das Getränk
entgegen und
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