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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen
Autoren: Horst Biernath
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Athener Mitbürger anstatt »Oh, ihr Männer von Athen« nur »Oh, ihr atheniensischen Männer« zu sagen, und schon wand er sich ob solcher Sprachverhunzung wie die ganze Laokoongruppe und seufzte gequält: »Setzen Sie sich! Den Fleiß will ich Ihnen nicht absprechen. Und Sprachgefühl ist wohl eine Begabung. Man hat es oder man hat es nicht. Ihnen fehlt es gänzlich. - Bitte, Wiersbitzky, fahren Sie fort.«
    Der Mathematiker war Professor Stieren. Was außerhalb der Mathematik an der Schule gelehrt wurde, hielt er für Firlefanz, für nutzlosen Gedächtnisballast, jeder Bemühung für unwert. Die Arme an die Brust gepreßt und die Hände so tief in den Jackenärmeln vergraben, daß er handlos zu sein schien, brachte er mich durch ein kurzes Anheben des Kinns zum Stehen: »Sie, der Neue da -Mathematik? Note?«
    »Vier, Herr Professor...«
    Er sah mich durch seine runden, nickelgefaßten Brillengläser an, als suche er in meinem Gesicht nach Spuren von Aussatz. Nach der Stunde gelang es mir, ihn im Korridor zu stellen.
    »Was will er?« Tatsächlich, er bediente sich des Er aus friderizianischen Zeiten.
    »Ich wollte es Ihnen gleich sagen, Herr Professor, daß Sie es bei mir mit einem mathematisch Schwachsinnigen zu tun haben.«
    »Sowas gibts nicht!« bellte er mich an.
    Nach drei Minuten einer flüchtigen Prüfung wußte er, daß es so was doch gab. »Wenn er sich in meinen Stunden gesittet benimmt, kann er von mir aus machen, was er will. Hat er sonst noch was vorzubringen?«
    »Das Abitur, Herr Professor...«
    Er blinzelte mich trüb an: »Ich möchte wissen, wie er mit seinen Unkenntnissen zu einer Vier gekommen ist.«
    Ich hätte es ihm erklären können, aber ich unterließ es lieber. »Ich habe einige Ausgleichsfächer, Herr Professor... Trotzdem würde mir eine Fünf das Genick brechen.«
    »Will er etwa mit mir handeln?«
    »Nein, Herr Professor, ganz gewiß nicht...«
    »Was soll’s dann? Troll er sich jetzt. Er wird bekommen, was ihm zusteht.«
    Da kamen also wieder die alten Sorgen auf mich zu. Aber der grimmige >Bull< war gnädiger, als er sich nach außen hin gab. Unter den vier Aufgaben der schriftlichen Prüfung war eine, in der es hieß, wenn man das und das mit X multipliziere, dabei y herausbekomme und davon z abziehe, dann erhalte man als Resultat das Gründungsjahr einer bedeutenden Stadt. Es konnte sich nur um Rom und um die Zahl 753 handeln. Aber was nützte mir das schon? Die Aufgabe, für die anderen ein Kinderspiel, konnte ich nie im Leben lösen. Die schriftliche Prüfung fand im Zeichensaal statt. Jeder saß für sich an einem Tisch, und die einzelnen Tische waren nach allen Seiten meterweit voneinander entfernt. Man hätte schon ein Teleskop benützen müssen, um vom Nachbarn spicken zu können. Es war eine strenge Klausur. Sogar der natürlichen Bedürfnisse hatte man sich vor der Arbeit zu entledigen.
    »Aber weil einmal einem jungen Menschen die Blase geplatzt ist«, verkündete Stieren und deutete auf einen grünen Wandschirm im Hintergrund des Zeichensaals, »steht hinter dem Paravent ein Eimer - falls einer durchaus muß...«
    Als erster ließ es Konrad Rudowski hinter dem Paravent plätschern. Das winzige Papierröllchen mit der Lösung fand ich, wie verabredet, zwischen Rahmen und Stoffverspannung in die linke untere Ecke geklemmt. Und ich riskierte es, die Lösung der Aufgabe abzuschreiben. Vier Stunden lang verglich ich jede Ziffer und jedes Plus- und Minuszeichen des Spickzettels mit meiner Abschrift. Und dann paukte ich das Ganze auswendig, nebst Erläuterungen, die mir Konrad lieferte und stundenlang abhörte, falls es Stieren einfallen sollte, mich die Aufgabe an einem der kommenden Tage vor der Klasse an der Tafel wiederholen zu lassen. Ich bin davon überzeugt, daß er den Braten gerochen hat, denn so kinderleicht war die Aufgabe wiederum auch nicht, aber er ließ mich laufen. Er nörgelte nur, daß das Provinzialschulkollegium eine der Aufgaben so leicht gemacht habe, daß sie sogar ein Schwachsinniger hätte lösen können und - er sah mich über die Brille hinweg an-»gelöst hat!« Fürs Abgangszeugnis gab er mir die Note »Mangelhaft mit schwächeren mündlichen Leistungen«. Aber damit war ich gerettet. - Doch vor diesem glücklichen Ausgang lagen zwei lange Jahre. Zwei Jahre, von denen ich keines, nicht einmal die Ferien, zurückholen möchte, wenn mir eine gütige Fee den Wunsch, noch einmal achtzehn zu sein, gewährte.
    Das Fleming-Erlebnis hing mir lange nach.
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