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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen
Autoren: Horst Biernath
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zu gelähmt, um beiseite zu springen. Aus allen Häusern stürzten die Leute auf die Straße, überall in der Nachbarschaft hatte es zerbrochene
    Fensterscheiben und Scherben gegeben, bei Plokes war der Regulator von der Wand gefallen, und die Witwe Kallweit, die mit ihrer Tochter gerade von einem Spaziergang durch den Tiergarten zurückkam, wurde von einem niederprasselnden Dachziegel so unglücklich am Kopf getroffen, daß sie wie tot vor dem Nebenhaus auf der Straße lag. Der breitrandige Hut mit der Garnierung schwarzer Straußenfedern lag arg demoliert neben ihr, und auf dem Pflaster lag auch eine schwarze Perücke; abgesehen von der stark blutenden Kopfwunde sah die Witwe Kallweit mit ihrem echten, grauen Haar, das nur noch in einzelnen Strähnen wuchs und viel gelbe Schädelhaut sehen ließ, gar nicht vorteilhaft aus. Die blondgelockte Tochter in ihrem lila Taftkleid schrie gellend um Hilfe, und pudergetränkte Tränen rannen rosa auf das lila Kleid herab. Die Nachbarn schafften Frau Kallweit und die Tochter in ihre Wohnung. - Hatte man zuerst geglaubt, ein Erdbeben habe die Mauern erschüttert und die Zerstörungen angerichtet, so ließen nachfolgende schwere Detonationen, deren Schallwellen dumpf heranrollten, keinen Zweifel daran, daß es in der Nähe der Stadt ein Explosionsunglück gegeben habe. Bald erfuhr man, daß die Munitionsfabrik in Rothenstein mit allen Dynamitlagern in die Luft geflogen war und daß es dabei Hunderte von Toten gegeben habe. Es war eine schreckliche Geschichte am Rande des Krieges, der sich von uns auch an der Ostfront so weit entfernt hatte, daß wir seine Bedrohung nicht mehr wie im ersten Kriegsjahr am eigenen Leibe zu spüren bekamen. Einige Tage später besuchte uns Tanta Magda, die Frau eines Schullehrers aus Lauth, deren Verwandtschaft mit Mutter über drei oder vier Ecken ging. Sie war noch völlig verstört, denn sie hatte das Unglück aus nächster Nähe miterlebt. Wie durch ein Wunder waren Schulhaus und Dorf unversehrt geblieben, da die Druckwellen der Explosionen über Lauth hinweggegangen waren. Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte menschliche Körperteile waren in ihren Garten geregnet, als sie gerade dabei gewesen war, ihre Hühner und Karnickel zu füttern. Ein an jenem Tag frisch geschlachtetes Kaninchen brachte sie Mutter mit, da ihnen der Appetit auf Fleisch für einige Zeit gänzlich vergangen war.
    Mir brachte das Rothensteiner Unglück recht ansehnliche Nebeneinnahmen. Da der alte Glasermeister Korbjuhn mit seinem einzigen Lehrling alle Hände voll zu tun hatte, ersetzte ich mit der vom Schuhmacher-Großvater ererbten handwerklichen Geschicklichkeit bei uns, in unserm Haus und auch in der Nachbarschaft die zerbrochenen Fensterscheiben. Auch bei Frau Kallweit, die sich inzwischen von ihrem Unfall erholt hatte und mich nicht nur mit Geld, sondern auch noch mit einem großen. Marzipanei belohnte, das allerdings noch aus den fernen Kindertagen der Tochter zu stammen schien, denn es war steinhart und arg zusammengeschrumpft. Aber was tat’s, Süßigkeiten waren Mangelware geworden, ich hatte feste Zähne, und die Härte des Marzipans verlängerte nur den Genuß. In der Folgezeit aber avancierte ich bei Frau Kallweit zu einer Art Hausmeister, legte Klingelleitungen, reparierte Wasserhähne, flickte verrostete Ofenrohre und bekam neben dem Barlohn - aber dafür konnte man sich außer Groschenheften kaum noch etwas kaufen - jedesmal ein Stück Streuselkuchen, selbstgefertigte Rumkugeln oder eine Handvoll Sahnebonbons, die Fräulein Kallweit auf dem großen Fladenblech im Gasherd kochte. Ja, Kallweits ging es gut, die Verwandtschaft auf dem Land versorgte die beiden Frauen im Überfluß.
    Während Mutter die holländische Soße zum Kabeljau mit Eiersatzpulver gelb färbte, aus Zuckerrüben Sirup für den Brotaufstrich kochte, Bucheckern zur Ölpressung sammelte und schließlich in dem schlimmen Hungerwinter von 1917/18 Rübenschnitten auf Ersatzkaffee briet, damit die Rübenscheiben wenigstens bräunlich wie richtige Koteletts aussahen, delektierten sich die Damen Kallweit an knusprigen Tauben und Hähnchen und hatten genug Eier, um daraus einen köstlichen Eierlikör zu brauen, von dem ich hin und wieder auch einen Fingerhut voll vorgesetzt bekam. Wenn ich Mutter berichtete, was ich alles an Vorräten in der Kallweitschen Speisekammer gesehen hatte, ganze Speckseiten, armlange geräucherte Würste, Gläser voll Schmalz und eingesülztem Schweinefleisch, dann wurde
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