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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Ich bin der Ansicht, dass du ihm den Stoß versetzt hast, weil du eine Möglichkeit sahst, ihn ein für alle Mal loszuwerden. Vielleicht hattest du das sogar geplant, bevor ihr zu diesem Arbeitswochenende aufgebrochen seid. Vielleicht sogar ihr drei zusammen. Denkbar wäre allerdings auch, dass es sich um eine Kurzschlussreaktion gehandelt hat. Egal wie, es läuft aufs Gleiche hinaus. Du hast ihn über die Klippe gestoßen.«
    Die Stahltür quietschte ein wenig, als sie sich öffnete. Sigurður Óli trat auf den Flur und bedankte sich bei dem Aufseher, der die Tür wieder verriegelte. Sverrir hämmerte von innen gegen die Tür und begann zu schreien.
    »Rede mit mir! Hör mir zu!«
    In Augenhöhe befand sich eine Öffnung in der Tür. Sigurður Óli öffnete die kleine Klappe und sah Sverrir in die Augen. Er war blutrot angelaufen.
    »Es war ein Unfall«, schrie er.
    Sigurður Óli sah ihn nur schweigend an.
    »Es war ein Unfall!«, wiederholte Sverrir entschlossen. »Ein Unfall!«
    Sigurður Óli schob die Klappe wieder zu und überhörte Sverrirs Tritte und das Hämmern gegen die Tür genauso wie sein Schreien, er habe nichts mit dem Tod von Þorfinnur zu tun gehabt.

Dreiundfünfzig
    Am späten Abend klingelte das Telefon bei Sigurður Óli. Es war Patrekur, der fragte, ob er noch auf einen Sprung vorbeikommen dürfe. Kurze Zeit später klopfte es, und Sigurður Óli öffnete seinem Freund die Tür. Patrekur stand wie ein begossener Pudel vor ihm.
    »Es war alles meine Schuld«, sagte er. »Nicht sie, sondern ich sollte im Knast sein.«
    »Komm rein, ich hab gerade einen Tee gemacht«, sagte Sigurður Óli und ging mit ihm in die Küche.
    »Ich möchte gar nichts«, sagte Patrekur. »Ich wollte bloß mit dir reden. Was denkst du, was jetzt geschieht?«
    »Soweit ich weiß, hat Súsanna zugegeben, dass sie etwas mit dem Überfall auf Lína zu tun hatte«, sagte Sigurður Óli, der sich abends noch einmal mit dem Hauptdezernat in Verbindung gesetzt hatte. »Dass sie Höddi damit beauftragt hat, die Fotos zu holen. Sie und ihre Schwester, Hermanns Frau. Als du und Hermann mit mir geredet habt, haben die beiden mit Höddi gesprochen.«
    »Davon hatte ich keine Ahnung.«
    »Du hast Súsanna aber gesagt, dass du mit Lína geschlafen hast.«
    »Sie ist völlig ausgerastet, weil sie glaubte, dass Lína es darauf abgesehen hatte, unsere Ehe zu zerstören.«
    »Und Höddi hat Þórarinn engagiert.«
    »Súsanna hat mir nie erzählt, was dieser Höddi so treibt. Er war einfach nur ein guter Freund aus der Schulzeit. Und Lína war kein Engel, weit davon entfernt. Ich habe versucht, Súsanna das zu sagen, aber sie hat mich nur angeschrien und gesagt, sie wolle mich nie wiedersehen. Sie gibt mir die Schuld an dem Ganzen, und das verstehe ich gut. Und jetzt muss sie der Tatsache ins Auge blicken, dass sie den Tod eines Menschen verursacht hat.«
    »Indirekt«, sagte Sigurður Óli.
    »Das sieht sie nicht so.«
    »Einiges ist ja wohl auch ihrer Schwester und Hermann zuzuschreiben. Das muss man im Zusammenhang sehen.«
    »Ihre größte Wut richtet sich gegen mich.«
    »Es war in erster Linie dieser Idiot von Þórarinn, der zu weit gegangen ist«, sagte Sigurður Óli. »Aber damit will ich weder Súsannas Dummheit entschuldigen noch deine. Oder die von euch allen. Wenn du das nächste Mal Lust darauf verspürst, fremdzugehen, solltest du es entweder bleiben lassen oder zumindest Stillschweigen darüber bewahren.«
    »Was jetzt? Was soll nun werden?«, fragte Patrekur nach langem Schweigen.
    »Sie wird einige Zeit im Gefängnis verbringen.«
    »Ihr ist es in letzter Zeit dreckig gegangen, ich hab das bloß vor lauter eigenen Sorgen nicht gemerkt. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass sie an manchen Tagen fast wie von Sinnen war.«
    »Du solltest versuchen, ihr Halt zu geben.«
    »Falls sie noch etwas mit mir zu tun haben will.«
    »Ihr müsst damit leben. Vielleicht schweißt euch das wieder zusammen.«
    »Ich möchte sie nicht verlieren.«
    »Nein, das verstehe ich gut«, sagte Sigurður Óli.
    »Und du selber? Hast du Scherereien wegen uns?«
    »Ich werd’s schon überleben«, sagte Sigurður Óli.

Vierundfünfzig
    Er wartete ein weiteres Mal vor dem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur und ließ die Zeitung im Briefkasten nicht aus den Augen. Das Radio war wieder auf den Sender eingestellt, auf dem gute alte amerikanische Rockmusik gespielt wurde. Er war schläfrig, denn er war am Abend vorher spät ins Bett gekommen, weil er
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